Professionalität heisst mehr Mitarbeitende und weniger Schüler

Dr. Dieter Loosli, während 32 Jahren Heimleiter der Zürcherischen Pestalozzistiftung in Knonau, geht in Pension

Drei Generationen, eine Schule, von links: Vorgänger Hermann Stotz, Heimleiter Dieter Loosli und sein Nachfolger Daniel Schnyder. (Bild Werner Schneiter)
Drei Generationen, eine Schule, von links: Vorgänger Hermann Stotz, Heimleiter Dieter Loosli und sein Nachfolger Daniel Schnyder. (Bild Werner Schneiter)

Vertreter dreier Generationen sind es, die zum Abschiedsgespräch in den Räumen der Stiftung in Knonau erscheinen: Dieter Looslis Vorgänger Hermann Stotz und sein Nachfolger Daniel Schnyder, der 1988 in der Stiftung ein Praktikum absolviert hat. Nur logisch, dass da zuerst einmal die Vergangenheit aufs Tapet kam, genauer: die 60er-Jahre, als Hermann Stotz in Schlieren über 42 Kinder betreute, sogenannt verhaltensgestörte Schüler. Damals kümmerten sich zwölf Personen um die Knaben, zwei Lehrer und Hauspersonal. «Wir waren wie eine Grossfamilie», erinnert er sich. Ausbaupläne für die Schule in Schlieren wurden verworfen. Schliesslich fand sich ein Areal in Knonau, das vor 100 Jahren bereits einmal zur Debatte stand. Die Bauten wurden in den Jahren 1965 bis 1967 errichtet.

Es entstand ein Vorzeigebetrieb mit Hauptgebäude, Gruppenhäusern und Schulhaus – schweizweit damals eine absolute Neuheit. Erstmals wurden ab 1968 verhaltensauffällige Knaben – 4. Primarklasse bis 3. Oberstufe – in Gruppen betreut: Kinder, die in der öffentlichen Schule nicht mehr störungsfrei unterrichtet werden können, für die individuelle Betreuung und Schulung erforderlich ist und die in Knonau in Gruppenhäusern leben. Jede Gruppe ist sozusagen ein Heim für sich.

«Eine Stunde vor dem PC – eine verlorene Stunde»

Als Dieter Loosli 1983 die Heimleitung übernahm, schritt die Professionalisierung weiter voran: Mehr Mitarbeitende und weniger Schüler. Die Gruppen wurden kleiner. Heute sind es maximal 24 Kinder/Jugendliche, acht pro Gruppe, die in Knonau von insgesamt 30 Personen direkt oder indirekt eine intensive Betreuung und Schulung erfahren. «Wir haben weniger Schüler, mehr Professionalität, was ja gut ist, aber auch mehr Auflagen und mehr Administration», sagt Dieter Loosli, der sogar von Überreglementierung spricht, aber das ohne grosses Wehklagen, weil er Realist ist. «Das geht halt einher mit dem gesellschaftlichen Wandel.» Alles müsse akribisch erfasst, ausgewertet und dokumentiert werden.

«Unter dem Strich haben heute unsere Sozialpädagogen trotz weniger Schüler nicht mehr Zeit für die Kinder als in früheren Jahren», fügt Dieter Loosli bei und nennt ein Beispiel administrativer Auswüchse. «Als die Schweinegrippe auftauchte, erhielten wir vom Volksschulamt ein vollgeschriebenes A4-Blatt mit Massnahmen. Darunter auch der Vermerk, dass alle Schüler die Hände ausschliesslich unter fliessendem Wasser zu waschen haben ...» Und er schiebt eine Metapher nach: «Sitzt ein Sozialpädagoge eine Stunde vor dem PC, so ist das eine verlorene Stunde!» Sie fehlt ihm dann für die direkte Arbeit mit den Schülern.

Drei-Beine-Pädagogik

Mit dem Kind etwas machen, mit ihm den Alltag gestalten und es für das Leben rüsten – das gehört nach seinem Verständnis zu den Kernaufgaben von Pädagogen, wozu natürlich auch Begeisterungsfähigkeit, Berufung und Herzblut notwendig seien. «Konstanz ist etwas wichtiges. Der Sozialpädagoge, der Lehrer muss den Schüler für sich gewinnen, seine Widerstände überwinden, ihn motivieren, eine Beziehung aufbauen und ein Beziehungsangebot bieten. » Unter «etwas machen» mit den Schülern versteht Dieter Loosli zum Beispiel: eine Waldexkursion, das Erklären von Tier und Natur. Solchen Dingen stehe heute der Aspekt der Sicherheit gegenüber, die Angst vor Unfällen. «Früher machte man eine Schnitzeljagd, heute bucht man einen Fox-Trail.»

Er spricht von der sogenannten Drei-Beine-Pädagogik: Da ist einmal die Schule, der Unterricht. Als besonders wichtig bezeichnet er die Lernfelder, zum Beispiel die Mitarbeit auf der Wohngruppe, auf dem Bauernhof, in der Lingerie oder in der Küche. Und drittens folgt die sinnvolle Gestaltung der Freizeit. Und wieder greift er zur Metapher: «Auch ein Stuhl braucht drei Beine, damit er stehenbleibt.»

Nicht in einzelnen Bildungs-Theorien, die immer wieder als «Modeströmung» an die Oberfläche geschwemmt werden, sieht der scheidende Heimleiter das Heil, sondern die Vielfalt an Theorien. «Es ist nicht gut, sich auf eine festzulegen.»

Und schliesslich ist angesichts der weiter zunehmenden Professionalisierung im Bildungsbereich der Punkt erreicht, der die Frage nach der Finanzierung aufwirft. «Können wir uns all das noch leisten? Aber das ist ein politisches Thema», so Dieter Loosli.

Kürzere Aufenthaltsdauer

Trotz allem werden die pädagogischen Ziele in Knonau erreicht. Bei einem Drittel der Schüler ist der Aufenthalt dank der engagierten Arbeit der Mitarbeitenden die Stiftung «sehr erfolgreich», bei einem Drittel lautet der Befund «nicht schlecht» und beim letzten Drittel «na ja ...» Früher betrug die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Heim fünf bis sechs Jahre. Heute drei Jahre, weil bei den platzierten Schülern schon vor ihrem stationären Heimeintritt ambulante Massnahmen getroffen worden sind. Dieter Loosli lebte die notwendige Nähe zu den Schülern, früher Zöglinge genannt, praktisch vor: Bis diesen Mai wohnte er ohne Unterbruch in der Pestalozzi-stiftung – etwas, das schon bei seinem Vorgänger normal gewesen war, aber in Zukunft nicht mehr so sein wird. Zu wenig Distanz zwischen Beruf und Privatleben? «Kein Problem. Den kurzen Arbeitsweg habe ich immer geschätzt, und abgrenzen konnte ich mich immer. Bei der Zeitungslektüre habe ich kein Telefon entgegengenommen. Und bei Notfällen war ich rasch zur Stelle», sagt er.

Nun wieder Student: «ich braucheeine Tagesstruktur»

32 Jahre lang hat Dieter Loosli das Heim der Zürcherischen Pestalozzistiftung geprägt, mit die eigene Handschrift verpasst. Heute Dienstag ist nun Schlüsselübergabe an Daniel Schnyder. Aber der Neo-Pensionär, der nun in Affoltern wohnt, fasst einen neuen, denjenigen zur UniversitätZürich. Er beginnt dort Philosophie und Kunstgeschichte zu studieren, nachdem er in seinen jüngeren Jahren das Fach Psychologie und die Nebenfächer Psychopathologie und Theologie belegt hatte.

«Ich brauche als Pensionär eine Tagesstruktur und kann jetzt erforschen, ob ich mit dem AHV oder mit dem Studentenausweis mehr Rabatt erhalte», sagt Dieter Loosli mit seinem unverwechselbaren Humor.

 

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