«Wer weiss mein Kind, was den Fluss bewegt»

«Heimat» ist ein schwieriger Begriff. Dies wurde am vergangenen Donnerstag den Besuchern der Lesung der aus Bosnien stammenden Schauspielerin, Übersetzerin und Autorin Dina Sikiric einmal mehr klar. Besonders für Menschen, die bereits in der Kindheit in zwei Ländern unvollständig verwurzelt sind.

Dina Sikiric lässt anlässlich der Lesung am vergangenen Donnerstag in der Buchhandlung Scheidegger Kindheitserinnerungen aufleben, die unter die Haut gehen. (Bild Regula Zellweger)
Dina Sikiric lässt anlässlich der Lesung am vergangenen Donnerstag in der Buchhandlung Scheidegger Kindheitserinnerungen aufleben, die unter die Haut gehen. (Bild Regula Zellweger)

1955 wurde Dina Sikiric in Zagreb geboren. 1960 kam ihre Mutter nach Basel, um als Apothekerin zu arbeiten. Zurück liess sie ihren Mann, ihre Familie und ihre Kultur. Mit nahm sie das Kind – es war nicht gefragt worden. Das Kind nimmt die Reise mit dem Zug vom Herkunftsland über das Übergangsland in das Hinkunftsland intensiv wahr. Dina Sikiric ist ein Mensch, der nicht vergisst, aus der Sicht eines Kindes heute so erzählt, als wären die Dinge eben geschehen. Dies macht betroffen.

Kinderheim der schwarzen Vögel

Mit den Arbeitszeiten in der Apotheke lässt sich ein Krippenkind nicht vereinbaren. Die Mutter gibt das Kind in ein von Nonnen geführtes Kinderheim. Sie sieht es nur jeweils am Sonntagnachmittag und in den Ferien. Das Heidenkind, das Muslimkind, gibt sich alle Mühe, den Nonnen zu gefallen. Aber sie bleibt das Heidenkind, steht am Rand, ist Aussenseiterin. Sie geht zwar gern zur Kirche, mag die Musik und die Geschichten – aber taufen lässt sie sich nicht. Später kommt das Kind in ein städtisches Heim. Ab zehn Jahren kann es zurück zur Mutter, vor und nach der Schule kann es jetzt gut allein sein. Es kann gut allein sein. Das hat es gelernt.

Der Stoff könnte ein «Jammerbuch» sein. Dina Sikiric fällt nie in eine Opferrolle. Sie formuliert die Gefühle des Kindes nicht, aber sie hängen «zwischen den Zeilen» und gehen unter die Haut. Die Sprache ist feinfühlig, leise, exakt, reich an Bildern und Metaphern. Einzelne Wörter wiegen schwer, weil sie bewusst gesetzt – oder nicht gebraucht werden.

Zwischen den Kulturen

Die Mutter ist stark. Sie findet in einem fremden Land eine Existenz als alleinerziehende Mutter, zu einer Zeit, als in der Schweiz Kinderfremdbetreuung alles andere als optimal war. Das Kind ist stark – es überlebt, entwickelt seine Strategien, um seelisch gesund zu bleiben. Lichtblicke sind Ferien zuhause in Zagreb, wo der Vater und die ganze Familie sie verwöhnen. Der Grossvater zeigt seiner Enkelin sein Land mit einem Pferdewagen. Sein Land ist nicht ihre Heimat. Die Schweiz auch nicht.

Das Buch besteht aus Fragmenten aus einem Kinderleben, Fragmente aus dem Buch hat Dina Sikiric gelesen – und erzählt. Sie ist sprachlich differenziert, sehr genau. Dass «Heimat» umschrieben wird beispielsweise als Herkunftsland oder Land meiner Vorfahren sind auffallende Stilmittel. Die Erzählung «Was den Fluss bewegt» spielt in den 60er-Jahren – und ist topaktuell. Das Buch beginnt mit einem Zitat von Simone Weil: «Die Verwurzelung ist vielleicht das wichtigste und meistverkannte Bedürfnis der menschlichen Seele…».

Verlag mit hohen Ansprüchen

Harry Steinmann, Pädagoge und Ehrenbürger von Wettswil, hat Dina Sikiric sehr unterstützt. Er meldete sich am Schluss der Lesung zu Wort und brach eine Lanze für den Waldgut Verlag, der «Was den Fluss bewegt» herausgegeben hat. Verleger Beat Brechbühl hält trotz der harten Bedingungen im Verlagsgeschäft an seinen hohen Ansprüchen fest und nimmt auch unbekannte Autoren ins Programm auf, wenn er von einem Werk überzeugt ist. «Kauft Waldgut-Bücher», rät Harry Steinmann.

Der Satz «Wer weiss, mein Kind, was den Fluss bewegt», den die Mutter ihrer Tochter mit auf den Weg gibt, ist Leitmotiv der Erzählung und erscheint wie ein Refrain. Sich im stetigen Fluss befindend, pendelt Dina Sikiric, die in verschiedenen Ländern gewohnt hat und mehrere Sprachen spricht, noch heute zwischen Heimat- und Aufenthaltsländern. Sie sieht es weder als Vorteil noch als Nachteil: «Es ist das Leben.»

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