«Emotional durchgreifen ist kontraproduktiv»

Interview mit Martin Litscher, seit gut 100 Tagen Chef Regionalabteilung Limmattal/Albis der Kantonspolizei

Martin Litscher auf der Fahrradbrücke über die Autobahn A4 in Affoltern. Durch die Autobahn ist die Region Limmattal/Albis näher zusammengerückt. (Bild Salomon Schneider)
Martin Litscher auf der Fahrradbrücke über die Autobahn A4 in Affoltern. Durch die Autobahn ist die Region Limmattal/Albis näher zusammengerückt. (Bild Salomon Schneider)

Martin Litscher hat diesen März die Regionalleitung der Bezirke Affoltern, Dietikon und Horgen bei der Kantonspolizei Zürich übernommen – vorher war er zwei Jahre lang Bezirkschef in Dietikon. Grundsätzlich hat Martin Litscher drei ruhige Bezirke übernommen. Im Bezirk Dietikon gab es 2016 45,8 Strafanzeigen pro 1000 Einwohner, im Bezirk Affoltern 38,5 und im Bezirk Horgen 32. In der Stadt Zürich waren es 105,1 Strafanzeigen pro 1000 Einwohner. Gesamthaft befindet sich die Kriminalität auf einem Allzeittief.

Wie Martin Litscher in verhältnismässig ruhigen Zeiten die Polizeiarbeit in der Region Limmattal/Albis weiterentwickelt und, weshalb eine Reduktion der Korpsstärke für ihn nicht infrage kommt, erläutert er im Interview.

«Anzeiger»: Martin Litscher, Sie sind in Hedingen aufgewachsen und haben dort auch die Sekundarschule besucht. Wie erlebten Sie Hedingen Ende der 1970er-Jahre?

Martin Litscher: Die Sekundarschule Hedingen war damals noch viel kleiner. In meiner Klasse waren wir nur gerade sieben Schüler, weshalb zwei Klassen zusammen geführt wurden. Bei der Mitgestaltung der Lektionen hatten wir aber sicher weniger Mitspracherecht als heutige Schüler. Da die Leistungs- und Disziplinschraube aber etwas angezogen wurde, im Vergleich zur Primarschule, war ich sehr gut auf meine Lehre als Mechaniker bei der Garage Ruckstuhl in Affoltern vorbereitet.

«Den Dienstleistungsgedanken wieder stärker an die Front tragen»

Wie sind Sie vom Automechaniker zum Polizisten geworden?

Ich war immer ein Freund abwechslungsreicher Tätigkeiten und habe auf hohem Niveau Eishockey gespielt. Ein Nachbar von uns war Polizist und bei einem Gespräch über den Gartenzaun hat er gemeint, dass aus mir aufgrund meiner gefestigten Persönlichkeit und der Begeisterung für Sport ein hervorragender Polizist werden könnte. Nach dem Abschluss der Handelsschule und einem Sprachaufenthalt in den USA habe ich dann 1987 mit der Polizeischule bei der Kantonspolizei Zürich begonnen. Adrian Peterhans (Bezirkschef Affoltern der Kantonspolizei Zürich, Anm. d. Red.) und ich waren übrigens Klassenkameraden.

Wie sind Sie zum Chef der Regionalabteilung Limmattal/Albis geworden?

Einerseits war ich immer mit Herzblut Polizist und bin es heute noch, andererseits war sicher auch etwas Glück dabei. Ich hatte über die Jahre verschiedenste Kaderfunktionen inne und konnte Anfang 2015 die Stelle als Bezirkschef in Dietikon übernehmen. Als mein Vorgänger Willi Meier in Pension ging, habe ich mich dann auf die Stelle als Regionalchef Limmattal/Albis beworben. Aufgrund meiner vielfältigen Erfahrungen in Kaderfunktionen bei verschiedenen Abteilungen und sicher auch aufgrund meines Führungsstils habe ich die Stelle erhalten.

Wie haben Sie sich in Ihrer neuen Funktion eingelebt?

Im Moment kämpfe ich noch etwas mit der Entfernung zum operativen Bereich. Mir hat die unvorhersehbare Fallarbeit immer sehr gut gefallen. Auf der anderen Seite kann ich nun strategischer arbeiten und meine Visionen verwirklichen.

Wie sehen diese Visionen aus?

Ich will den Dienstleistungsgedanken wieder stärker an die Front tragen – und zwar auf verschiedenen Ebenen. Die Polizei soll ein präsenter und geschätzter Dienstleister sein.

«Prävention schafft Sicherheit, ohne die Einschränkung von Freiheit»

Das hört sich sehr ambitioniert an. Wie wollen Sie das bewerkstelligen?

Einerseits will ich meine Passion für den Polizeiberuf auf meine Truppe übertragen. Denn motivierte Polizisten leisten auch die beste Arbeit. Natürlich werde ich auch gezielt Kolleginnen und Kollegen fördern, die diese Freude am Beruf und den Dienstleistungsgedanken mittragen wollen. Andererseits wollen wir erreichbarer und damit näher bei der Bevölkerung sein und haben den Posten in Affoltern neu durchgehend von 8 bis 17 Uhr geöffnet. Auf lange Sicht will ich zudem die Polizeiposten geografisch wieder mehr ins Zentrum rücken. Die Bevölkerung soll sehen, wo und wie wir arbeiten.

Sie haben gesagt, dass Polizisten den Dienstleistungsgedanken hochhalten müssen. Ist die Polizei nicht in erster Linie für die Sicherheit zuständig?

Sicherheit ist ein Gefühl in der Bevölkerung und kein absoluter Zustand. Der Dienstleistungsgedanke beinhaltet beispielsweise, dass wir alle Hinweise aus der Bevölkerung ernst nehmen und uns auch in hektischen Situationen Zeit nehmen, um freundlich zu erklären. Dadurch schaffen wir in der Bevölkerung Vertrauen. Denn wo die Polizei kein Vertrauen geniesst, nehmen Menschen das Gesetz in die eigene Hand oder resignieren – so entstehen Parallelgesellschaften. Dadurch entsteht Unsicherheit und es kommt zu Übertretungen und Verbrechen.

Der Dienstleistungsgedanke schafft präventiv Sicherheit, während Präsenz an neuralgischen Punkten aktiv Sicherheit schafft. So können wir die Region noch sicherer machen, ohne dass mehr Freiheiten eingeschränkt werden müssen. Um dies zu bewerkstelligen, sind wir aber auch in ruhigeren Zeiten auf eine gewisse zahlenmässige Stärke des Polizeikorps angewiesen.

Das hört sich an, als dürfte Ihr Korps nicht auch einfach einmal durchgreifen und ein Zeichen setzen.

Genau. Die Polizei hat in Friedenszeiten das Gewaltmonopol im Staat inne. Da ist von jedem Einzelnen spezielles Fingerspitzengefühl gefragt. Einfach emotional durchzugreifen ist schlicht und einfach kontraproduktiv. Ich erwarte von meinen Mitarbeitenden, dass sie nur nach reiflichem Abwägen verschiedener Optionen handeln. Psychologie und soziale Fähigkeiten werden deshalb in der Polizeiarbeit immer wichtiger und auch regelmässig gezielt geschult.

«Soziale Fähigkeiten sind bei Polizisten heute am wichtigsten»

Sportlichkeit und physische Stärke sind also für die Polizeiarbeit gar nicht wichtig?

Doch (lacht). Aber lange nicht so wichtig wie sich viele vorstellen. Eigenschaften wie Belastbarkeit, Durchsetzungsvermögen, Zuverlässigkeit, Konflikt-, Kontakt- und Teamfähigkeit sind viel wichtiger.

Wenn Sie den Bezirk Affoltern betrachten, was macht ihn bezüglich Polizeiarbeit speziell?

Der Bezirk Affoltern ist gefühlt der ruhigste Bezirk der Region. Trotzdem patrouillieren wir auch hier regelmässig und zeigen Präsenz. Wir rücken auch regelmässig aus – einfach oft wegen anderer Sachen als beispielsweise im Bezirk Dietikon. Was beispielsweise im Limmattal als normale Kommunikationslautstärke akzeptiert ist, führt im Knonauer Amt schnell zu Lärmklagen.

Leider rufen viele Menschen die Polizei, ohne den Lärmverursachenden mitgeteilt zu haben, dass sie sich durch ihre Lautstärke gestört fühlen. Lärmverursacher sind nämlich in den meisten Fällen sehr verständnisvoll und halten sich zurück, wenn sie wissen, dass sie jemanden stören. Leider nehmen jedoch Eigenverantwortung und gegenseitiger Respekt in der Bevölkerung immer mehr ab. Wie das Verhalten von Polizisten sollte auch im Verhalten der Bevölkerung Verhältnismässigkeit als Maxime gelten.

Interview: Salomon Schneider

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