Über das Ende und das Verschwinden

Arno Camenisch las aus seinem neusten Roman «Der letzte Schnee»

Arno Camenisch hat einen humorvollen Blick auf die Welt, der aber auch sehr tiefgründig ist. (Bild Regula Zellweger)
Arno Camenisch hat einen humorvollen Blick auf die Welt, der aber auch sehr tiefgründig ist. (Bild Regula Zellweger)

«Was ist denn hier los», stöhnte eine Dame, die regelmässig die Anlässe in der Bibliothek Stallikon besucht, «so was habe ich hier noch nie erlebt.» Bibliotheksleiterin Ayoma Pfister und ihr Team eilen mit Bergen von Kissen durch die Bibliothek: «Wo könnte sich noch jemand hinsetzen?» Irgendwie fanden alle rund 100 Personen Platz, die treuen Besucher der Stalliker Bibliotheksanlässe und die Camenisch-Fans von auswärts.

Professionalität, die begeistert

Sportlich hüpften Arno Camenisch und der Musiker Roman Nowka mit seiner E-Gitarre vor das Publikum. Ayoma Pfister eröffnete die Performance-Lesung mit einer erfrischend kurzen Begrüssung: «So voll habe ich die Bibliothek Stallikon noch nie gesehen – sensationell!». Sensationell ging es gleich weiter. «Ora pro nobis», setzte Arno Camenisch ein, las einen kurzen Text und begrüsste dann seinerseits die Stalliker und Nicht-Stalliker: «In Stallikon war ich noch nie!» Dieser eine Satz, inhaltlich nicht besonders einzigartig, brachte die Besucher zum Lachen. Wenn Arno Camenisch diesen Satz im typischen «Camenisch-Sound», begleitet von der E-Gitarre, die generell nicht besonders sanft-lieblich klingt, wenn also Camenisch dieses simplen Satz formuliert, bringt er damit viel mehr als die ausgesprochenen Worte herüber: Stallikon ist nicht New York. Und schon gar nicht Chur.

Wandel im Bündner Bergtal

«Der letzte Schnee» ist ein witziges und berührendes Buch. Die Dialoge zwischen den beiden alten Bündnern Paul und Georg in und beim «Skilifthüttli» drehen sich ums Gestern, Heute und Morgen. Es geht ums Wetter, ums Glück, um die Alten und die Jungen im Dorf, ums Leben in den Bergen, um Vorfahren und Vorbilder, um Sieg und Niederlage, um Schule und Erziehung und um die zeitlosen Fragen nach Woher und Wohin. Man erfährt, wie es früher war, als der alte Pieder mit seinem Stock stur mitten auf der Strasse ging: «Ich war zuerst da.» Ein Argument, das eine Dame mit einem VW Käfer nicht beachtete und ihn einfach überfuhr. Man erfährt vom Heute im Bündner Dorf, aus dem die Jugend abgewandert ist und der einst moderne Schlepplift, bei dem Paul und Georg im Winter arbeiten, nicht einmal mehr historischen Wert geniesst. Wo Paul noch immer seine Frau Claire liebt. Und wo man den Schlepplift im Hintergrund stetig rattern hört. Und von der Zukunft und der Frage, was geschehen wird, wenn es gar keinen Schnee mehr gibt. «Jetzt hat es schon weniger Zucker auf den Bergen als Kokain…». Camenisch beschreibt mit den Dialogen der beiden Protagonisten, dem bedächtigen Georg und dem Fabulierer Paul, den Wandel im Bündner Bergtal, der Surselva, in der Sutselva und überhaupt.

Einzigartige Performance

Arno Camenisch liest nicht vor. Er lebt seine Texte mit dem ganzen Körper vor, wippt in seinen Turnschuhen auf und ab. Vor allem seine Stimme moduliert er virtuell - wie ein ausdrucksstarkes Instrument. Diesen speziellen Sound, die präzise eingesetzten Rhythmen nimmt der Gitarrist Roman Nowka auf, macht sie zu etwas Eigenem und führt sie gekonnt wieder zu Camenisch zurück. Der Wechsel von Wort und Musik kann nur so hervorragend klappen, wenn sich zwei verstehen, aufeinander eingespielt sind, wobei jeder sich selbst bleiben kann.

Camenisch zelebriert Helvetismen – oder besser gesagt «Grischunismen». «Gopfertelli» und «Heilige Bimbam» gehören nicht zur gepflegten Schriftsprache – aber zu Camenisch. Er liest einen Text auf Deutsch, alle können folgen. Dann blitzschnell in seinem Surselver Dialekt. Da der Text vor allem aus Ortschaften und Zahlen besteht, meint man, man verstehe ihn. Er schöpft hemmungslos neue Wörter. Wer sagt schon Diskalkulie aktiv, als Verb: «Er diskalkuliert»? Camenisch hat eine bildhafte Sprache, oft poetisch. Und er fasst kurz und knapp ganze Philosophien in ein Bild in Alltagssprache: «…dass man mit der ganzen Welt verbunden ist, wenn man zum See geht und den Finger ins Wasser streckt.»

Trotz der überfüllten Bibliothek herrschte nach der Zugabe von vier Geschichten – teilweise gekonnt präsentiertem Nonsense – eine super Stimmung. Die Besucher kauften bei Annette Markwalder von der Buchhandlung Scheidegger lustvoll Camenisch-Bücher und auch die CDs von Roman Nowka fanden Absatz. Ob das Bibliotheksteam beim Vorbereiten des Apéros vorausgesehen hat, dass er für über hundert Gäste reichen müsste? Er reichte, denn wichtig waren die persönlichen Gespräche, provoziert durch die hervorragende Performance. Denn trotz der mit Musik gefüllten Lesepausen war der Stoff so dicht, dass die Zeit nicht reichte, ihn in seiner schillernden Virlschichtigkeit zu verarbeiten. Die Regionalbibliothek Affoltern muss sich heute schon Gedanken machen, wie sie genügend Sitzplätze zur Verfügung stellen kann, wenn Arno Camenisch am 3. Mai 2018 zusammen mit Roman Nowak auftreten wird. Wird es beginnen mit: «In Affoltern war ich noch nie.»

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