«Das Schreiben frisst das Leben»

Am Sonntagmorgen lud die Regionalbibliothek Affoltern zusammen mit Kultur Affoltern zur Lesung mit Angelika Overath aus ihrem Roman «Ein Winter in Istanbul». – ein differenzierter, sinnlicher Sprachgenuss und eine Auseinandersetzung mit Themen rund um Persönlichkeitsentwicklung, Beziehungsfähigkeit, Ambivalenzen, Kulturen und Religionen.

Autorin, Journalistin und Dozentin Angelika Overath begeisterte die Besucher der Lesung mit ihrem klug komponierten Roman, Vielschichtigkeit, sinnlicher und bildhafter Sprache und ihrer lebendigen, offenen Persönlichkeit. <em>(Bild Regula Zellweger)
Autorin, Journalistin und Dozentin Angelika Overath begeisterte die Besucher der Lesung mit ihrem klug komponierten Roman, Vielschichtigkeit, sinnlicher und bildhafter Sprache und ihrer lebendigen, offenen Persönlichkeit. <em>(Bild Regula Zellweger)</em>

Istanbul ist eine Stadt auf zwei Kontinenten, sie vereint östliche und westliche Kultur. Der Bosporus hat zwei Strömungen – vom Schwarzen Meer und aus dem Schwarzen Meer. Der Bündner Mittelschullehrer Cla verbringt ein halbes Jahr in der 15-Millionen-Stadt und lebt in einem kleinen Bündner Bergdorf. Cla liebt eine Frau, und dann auch einen Mann. Gegen-sätze, Ambivalenzen machen diesen Roman interessant, spannungsvoll.

Um drei Menschen rankt sich der Roman «Ein Winter in Istanbul» von Angelika Overath – der erste Band einer Trilogie. Cla, 45, ist Mittelschullehrer im Engadin. Er hat eine Beziehung zur attraktiven Sportlehrerin Alva, 35. Ein schönes Paar, ist man sich im Umfeld der beiden einig. Sie möchte eine Familie. Er weiss nicht, was er will.

Seine Lösung ist die Möglichkeit einer Auszeit in Istanbul, wo er dem Leben und Wirken von Nikolaus von Kues nachforschen will. Der gebildete deutsche Philosoph, Theologe und Mathematiker aus dem 15. Jahrhundert gehörte zu den ersten deutschen Humanisten – in seiner Denkweise des friedlichen Nebeneinanders von Religionen ein früher Lessing.

Clas Reise nach Konstantinopel führt ihn zurück in die Zeit des Konzils von Basel, als Nikolaus von Kues von Konstantinopel nach Venedig reiste, und beschert ihm in der Gegenwart eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst, die Entscheidungen für die Zukunft erzwingt.

Liebeserklärung an Istanbul

Angelika Overaths Roman ist bessere PR für die Stadt am Bosporus als mancher Reiseführer. Man hat Lust, die sinnlich beschriebenen Orte aufzusuchen, beispielsweise wie Cla den Sonnenuntergang zu erleben, am Meer in Cafés zu sitzen, durch Gassen und Märkte zu schlendern und sich in einem Hamam massieren zu lassen. Der Kellner Baran, aufgewachsen in Deutschland, lässt ihn die Stadt lebendig und vielschichtig erleben.

Mit den Gesprächen zwischen den Protagonisten kann Angelika Overath Themen vermitteln, die sie selbst brennend interessieren. Das Betrachten von Mosaikfragmenten ist nicht nur eine Schilderung eines Kunstwerkes, sondern bedeutet eine Auseinandersetzung mit Religion, mit dem Miteinander der Menschen – oftmals in Form von Metaphern. Baran führt Cla auch ein in die Liebe zwischen Männern. Was als Abenteuer, als Flirt unter Männern begann, wird ernst. Und als Alva nach Istanbul kommt, kompliziert.

Wunsch nach Toleranz

Um Istanbul so lebendig beschreiben zu können, muss man es gut kennen. Angelika Overath lebte in der Türkei, nutzte ein Stipendium, um sich in die Stadt einzuleben. Sie erzählte beispielsweise, wie anders sie sich fühlte, als sie mit einem Kopftuch durch Istanbul ging. Frauen ohne Kopftuch beachteten sie kaum, Frauen mit Kopftuch suchten Augenkontakt, sahen sie schwesterlich an.

So tun als ob, Lügen, die nicht wirklich Lügen sind, sind im Leben von Cla ein Thema. Sein Aufenthalt ist eine Identitätssuche – die ihn zunächst vor allem verwirrt. «Für einen der aus den Bergen kam, war diese Stadt die Hölle. Er ist überfordert. Zu viel Verkehr, zu viele Menschen, zu viele Sprachen.»

Sprachkünstlerin

Die Lesung und die Gespräche vergingen im Flug. Die Autorin und Journalistin beantwortete Fragen offen und ehrlich. Das Publikum lachte, als Angelika Overath beschrieb, wie ihre Tochter sie dazu motiviert hatte, eine Sexszene zu schreiben. Nachdenklich stimmte die Frage, ob Journalisten Länder als Reisedestinationen vermitteln sollen, in denen Journalisten verfolgt, Menschen gefoltert werden.

Auch gefragt zu ihrem Schreiben war sie ganz ehrlich: «Romanschreiben ist Lebenszeit. Lohnt es sich, so viel Zeit ins Schreiben zu investieren, statt ins eigene Leben?»

Die Dozentin am MAZ und vielfache Literaturpreisträgerin legt bewusst Schreibpausen ein. Wohnhaft im Engadin und eben eingebürgert als Schweizerin bewegt sie sich auch gern in der Natur, möchte wieder Klavier spielen, wird bald Grossmutter und möchte Zeit mit dem Enkelkind verbringen... Und doch wird sie sich im Herbst mit dem Schreiben des Folgeromans aus der Sicht von Baran wieder dem Schreibprozess mit all seinen Höhen und Tiefen aussetzen. Trotz ihrer Aussage: «Das Schreiben frisst das Leben.» Weil offenbar Schreiben für Angelika Overath Leben ist.

Nächste Lesung in der Regionalbibliothek: Freitag, 8. Februar, 20 Uhr, mit dem Schweizer Krimiautor Sunil Mann. Anschliessend Apéro.

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