Der Super-Sammler

Eine missglückte Operation hat Sven Blaser vor siebzehn Jahren aus dem Berufsleben gerissen. Doch das Nichtstun liegt ihm nicht. Deshalb hat der Affoltemer vor elf Jahren damit begonnen, ­ Alu-Dosen zu sammeln. Daraus ist ein unverwechselbarer Abholservice entstanden.

Seit fünf Jahren besitzt der 51-Jährige einen Kleintraktor. Ihn kann er trotz seines halbgelähmten Fusses fahren.

Seit fünf Jahren besitzt der 51-Jährige einen Kleintraktor. Ihn kann er trotz seines halbgelähmten Fusses fahren.

In einem ehemaligen Kuhstall oberhalb von Affoltern lagert und presst Sven Blaser seine Dosen. (Bilder Livia Häberling)

In einem ehemaligen Kuhstall oberhalb von Affoltern lagert und presst Sven Blaser seine Dosen. (Bilder Livia Häberling)

«Hallo?», fragt Sven Blaser in sein Smartphone, «Hallo?!». Die Uhr zeigt drei Minuten nach drei, er steht in der Tiefgarage seiner Wohnsiedlung in Affoltern und versucht, die Nachbarin zu erreichen. Sie hatte ihn für drei Uhr bestellt, nun nimmt sie nicht ab, und auch das Sperrgut steht nicht bereit. «Ich wart no ei Minute. Wenn sie denn nöd chunnt, hed sie Päch gha.»

Vier Minuten nach drei Uhr steigt er in seinen Kleintraktor, zieht die Türe zu und tuckert die Auffahrt hoch. Seine Kundin wird sich noch ein, zwei Tage gedulden müssen, bis er wiederkommt und ihr Bett und die Waschmaschine abholt. Wenn es um Pünktlichkeit geht, versteht Sven Blaser keinen Spass. «Han ja au no anderi Chunde!»

Seit 2010 bietet er im Säuliamt einen Abholservice an. Für ein Trinkgeld fährt er vor, lädt auf, was weg soll. «Egal was, ich holä alles.» Die ersten fünf Jahre tat er das mit Töffli und Anhänger. Seit 2016 besitzt der 51-Jährige einen kleinen Traktor mit Ladefläche. Darauf hievt er Karton oder Säcke voller Alu-Dosen, Aber auch Sofas oder Bettgestelle transportiert er regelmässig ab. Was Blaser entsorgen soll, das entsorgt er. Dafür sorgt er.

102000 Kilometer auf dem Kleintraktor quer durchs Säuliamt

Sven Blaser kurvt mit zehn Stundenkilometern durch das Quartier, biegt auf die Hauptstrasse ein. «Mer gönd uf Zwillike.» Er trägt einen Westernhut, ein schwarzes Ledergilet und darunter den grauen Pullover eines Baugeschäfts. Trotz Minustemperaturen muss er in seinem legeren Dress nicht frieren. Sein Traktor ist beheizt. «Immer dä Wärmi nah», sagt er einmal, bevor er wieder einsteigt. Das grün-gelbe Gefährt mit zwei Sitzplätzen ist Blasers ganzer Stolz. Andere fahren damit hie und da zum Holzen, er fährt überallhin. 102000 Kilometer in fünf Jahren. Europäischer Streckenrekord, sagt der Hersteller.

Ein Jahr lang hat Sven Blaser einst in Zürich das Autofahren geübt, doch die Prüfung hat ihm zu viel Angst gemacht. All die Autos und Velofahrer und Trams und Busse und Fussgänger. «Das chani nöd ha», sagt Blaser. Seinen Kleintraktor hingegen darf er mit dem Ausweis für Mofas und Landwirtschaftsfahrzeuge lenken.

Die Zähne zusammenbeissen

Neben dem Gaspedal liegen Zigarettenstummel. «Jedem siis Laschter», sagt Blaser. Auf dem Gaspedal liegt sein rechter Fuss, der in einer Stricksocke und einem Spezialschuh steckt. Er gehört zu einem Bein, das eine fatale Fehloperation und zwei Dutzend Korrekturoperationen hinter sich hat. Zwar bringt Sven Blaser diesen halbgelähmten Fuss noch dazu, das Gas- und Bremspedal zu bedienen, doch er muss dafür arg die ­Zähne zusammenbeissen.

Sven Blaser sagt von sich, er habe in der Schule stets «einen Fensterplatz» gehabt und hin und wieder lieber den ­Vögeln zugeschaut. Nach der Oberschule macht er eine Anlehre als Metallbearbeiter. Auf diesem Beruf arbeitet er – bis es nach der missratenen Operation nicht mehr geht. 2006 wird ihm eine Teil-IV-Rente zugesprochen, vier Jahre später findet er bei der Ernst Schweizer AG wieder eine 50-Prozent-Stelle, bei der er sitzend arbeiten kann. Dass sein Arbeitgeber in diesem Beitrag erwähnt wird, ist ihm wichtig. Er möchte danke sagen. Zahlreiche Bewerbungen habe er damals geschrieben. Ohne Erfolg. «Wennd e Behinderig hesch, schtellt di praktisch niemer meh ii.»

Ein ausgezeichneter Sammler

Und der Abhol-Service? Wie hat alles angefangen? «Das isch kompliziert», sagt Sven Blaser und grinst, «zwar nei, eigentli nöd». Ein Arbeitskollege habe Alu-Dosen gesammelt, um sich ein kleines Trinkgeld zu verdienen. Also habe auch er im Jahr 2010 begonnen, die Dosen aus den Abfalleimern zu fischen. Einen Franken und dreissig Rappen bezahlt die Igora-Genossenschaft für jedes zurückgebrachte Kilogramm. Er habe einfach immer weitergesammelt, auch, weil er findet, Alu-Dosen gehören nach dem Gebrauch recycelt. «Bi zwar kän Grüene, gar nööd», sagt Blaser, «aber das, was mer chauft, sött mer au wider zruggbringe.»

Inzwischen liefert Sven Blaser jedes Jahr rund sieben Tonnen Alu-Dosen ab. Für diesen Einsatz wurde ihm 2012 von der Igora-Stiftung ein Preis verliehen. Nach und nach sprach sich seine Sammel-Leidenschaft herum, so durfte er in ersten Haushalten die Dosensammlungen abholen, und bald auch die PET- oder Kartonsammlungen. Er passte sich an. Heute transportiert er alles ab, was weg muss.

Einer, der wenig braucht, um zufrieden zu sein

In Zwillikon zweigt Sven Blaser von der Hauptstrasse ab und parkiert das Fahrzeug in einem Unterstand, der einem Baugeschäft als Lager dient. Er steigt aus. Bewegt sich leicht humpelnd zum Altkarton und greift sich die Schachteln, um sie dann mit zackigen Bewegungen auf die Ladefläche zu hieven. Es wirkt, als wollten Arme und Hände schneller arbeiten, als die Beine es zulassen.

Einmal pro Woche kommt Sven Blaser hier vorbei und holt den Karton oder andere Abfälle ab. Das Baugeschäft bezahlt ihm dafür monatlich eine Pauschale. 300 Kunden, sagt er, nehmen seinen Dienst im Säuliamt regelmässig in Anspruch. Die übrigen rufen ihn an, wenn sie ihn brauchen. Wie dieser Kunde, der sich einmal im Jahr ein neues Sofa kaufe und dann froh sei, wenn er das alte wegschaffe. «Insgesamt sind es zirka 500 Kunden», schätzt Sven Blaser. Auch bei der Firma Zingg Transporte in Hedingen holt er regelmässig PET-Flaschen, Alu-Dosen oder Karton ab. «Das funktioniert sehr gut», sagt Inhaber Andreas Zingg. Sven Blaser habe trotz seines körperlichen Handicaps ­einen grossen Arbeitswillen und biete einen zuverlässigen und pünktlichen Service. Wenn sie ihn beim Leeren der Behälter auf dem Firmengelände antreffen, offerieren ihm die Mitarbeitenden gelegentlich einen Kaffee. Auch schon hat Sven Blaser sich nach T-Shirts mit Firmenlogo erkundigt. «Dänn machi nochli Werbig für eu», habe er gemeint und nach dem Preis gefragt. Als er die Kleidung geschenkt bekommen habe, habe er sich über diese Geste gefreut, sagt Andreas Zingg. «Sven Blaser ist ein bescheidener Mensch.» Einer, der wenig Materielles braucht, um zufrieden zu sein.

«Nume nöd brämse»

Auf der Rückfahrt nach Affoltern klingelt das Telefon. Einmal, zweimal. «Nöd wichtig», sagt Sven Blaser etwas schroff. Es gibt Menschen, auf die er nicht mehr gut zu sprechen ist, weil sie seine Gutmütigkeit immer wieder ausgenutzt haben. Zu den anderen aber ist Sven Blaser auf eine rührend aufrichtige Art freundlich. Einmal, als ihm ein Mann vom Fussgängerstreifen aus für den Vortritt dankt, winkt er zurück und sagt «bitte, gerngscheh» in seiner Fahrerkabine.

Mehrmals an diesem Nachmittag winken ihm die Leute vom Trottoir auch zu, ohne dass er für sie anhält. Oder sie grüssen ihn mit der Lichthupe. Sven Blaser lebt seit 47 Jahren in Affoltern. Ihn kennt man, sagen die Leute.

Zurück in Affoltern, biegt er mit dem Alt-Karton auf das Areal der Sammelstelle von Peter Schmid ein. Bis zur Depothalle sind es noch wenige Meter, es geht bergab, er ist zügig unterwegs. Als er rechts abbiegt, kommt das Fahrzeug im Schnee ins Rutschen. «Nume nöd brämse», kommentiert er gelassen, «brämse isch nöd guet. Eifach mache lah das Züüg, nur mache lah.»

René Stehli, der bei der Peter Schmid AG den Bereich Recycling leitet, kennt Sven Blaser von klein auf. Er habe seine ganz eigene Art, sei aber ein durchwegs geselliger, gutmütiger Mann – und er sei einer, der arbeiten wolle. So sehr, dass er mit seinem Traktor zuweilen etwas gar zackig über das Betriebsareal flitze, was dann zum einen oder anderen ­ermahnenden Wort führe. Man sieht es ihm nach. «Er ist ein guter Geist», sagt René Stähli. «Wenn er nicht mehr käme, würde er fehlen.»

Er arbeitet auch samstags und sonntags

Als Sven Blaser das Betriebsareal von Peter Schmid wieder verlassen hat, klappert er auf einer Tour verschiedene Betriebe ab. Den Denner oder die Tankstelle bei der Autobahnbrücke. Dort sammelt er die PET- und Alu-Dosen ein. Auch beim Imbiss «Stella» fährt er vor. «Hey, Sven!», ruft einer herzlich, «wo warst du?» Fünf Tage, erklärt er, sei sein Traktor in der Werkstatt gewesen. Ein richtiges Dorforiginal fällt dann erst recht auf, wenn es nicht da ist.

Als seine Ladefläche wieder voll ist, fährt er los, um sein Dosenlager anzusteuern. Es befindet sich oberhalb von Affoltern auf einem Bauernhof. «En richtige halbe Chueschtall!», sagt Sven Blaser fast frohlockend. Zwar hat er bei Peter Schmid seine eigene Dosen-Mulde, um diese jedoch möglichst gut zu füllen, presst er die Dosen zuvor im Kuhstall.

An der Presse steht Sven Blaser meist am Abend, nachdem er am Nachmittag bereits auf Abholtour war – und am Morgen für die Ernst Schweizer AG Briefkästen angefertigt hat. Auch samstags und sonntags ist er auf seinem Traktor unterwegs, einen freien Tag gönnt er sich nur selten. «Mit miim Bei chani ja sowieso nöd weg.»

Um das Geld geht es ihm nicht

Trotz all des Einsatzes lohnt sich der Abholservice aus finanzieller Sicht kaum. Die Wartungskosten für den Traktor, das Benzin – «Es lohnt sich nur ganz es bizzeli», sagt Sven Blaser über sein Hobby. Zum Glück gibt es jene – und es sind nicht wenige – die seinen Service nicht nur mit ein paar Franken, sondern immer mal wieder mit einem grosszügigen Trinkgeld honorieren. So kann er auch die Lücken ausgleichen, die entstehen, wenn Kunden zwar seinen Service in Anspruch nehmen, ihn am Ende aber doch nichts dafür geben wollen.

Für Sven Blaser ist sein Abholservice ohnehin viel mehr als eine Geldquelle. Durch ihn hat er eine Beschäftigung, die ihm Freude bereitet, die ihn unter die Leute bringt. ««Ich bin nöd gern allei», sagt er. Seine Sammelleidenschaft macht ihn nicht reich, aber sie macht ihn zufrieden. Sie bewahrt ihn vor der Einsamkeit.

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