In manch einem Balg hockt noch der Beizenrauch von damals

35 Jahre hat er im Orchester des Zürcher Opernhauses Klarinette gespielt. Heute musiziert Richard Schönenberger am liebsten mit dem Schwyzerörgeli. Seine Sammlung umfasst inzwischen 17 Instrumente, deren Ursprünge teilweise bis ins Jahr 1870 zurückgehen.

Richard Schönenberger mit einer «Eichhorn» von zirka 1920. Vorne: Eine «Joh.Ulrich Herrmann» von zirka 1890 (links), ein Eichhorn-Stöpselbass-Örgeli von 1917 und eine «Eichhorn» von 1916.

Richard Schönenberger mit einer «Eichhorn» von zirka 1920. Vorne: Eine «Joh.Ulrich Herrmann» von zirka 1890 (links), ein Eichhorn-Stöpselbass-Örgeli von 1917 und eine «Eichhorn» von 1916.

Die 18-bassige «Nussbaumer» stammt aus dem Jahr 1923 und gilt unter Kennern als Kostbarkeit. (Bilder Livia Häberling)

Die 18-bassige «Nussbaumer» stammt aus dem Jahr 1923 und gilt unter Kennern als Kostbarkeit. (Bilder Livia Häberling)

Wieder geht ein Köfferchen auf. Eine Handharmonika, Marke Herrmann, kommt zum Vorschein. Gebaut hat sie Johann Ulrich Herrmann um das Jahr 1890 in seiner Werkstatt im Emmental, und vermutlich ist sie über die Jahrzehnte von einer Generation in die Hände der nächsten gewandert, hat mit ihren Klängen in verqualmten Beizen für Heiterkeit gesorgt und in einsamen Stunden für Trost. Hat Kneipenböden in Tanzflächen verwandelt und wortkarge Zeitgenossen in Sänger. Und nun, seit Februar, erfreut sie Richard Schönenberger.

Mit dem Schwyzerörgeli verbindet den Hedinger eine jahrzehntelange Sympathie. Bereits als Jugendlicher lernte er das Instrument kennen, damals spielte er es allerdings noch nicht selbst, sondern wurde von befreundeten Musikern begleitet, während er die Klarinette spielte. Später, in seinen Mittvierzigern, begann er, sich näher mit dem Örgelispiel zu beschäftigen und musizierte zum ersten Mal selbst damit. Damals arbeitete Richard Schönenberger noch für das Zürcher Opernhaus, und anders als im Orchester spielte er das Schwyzerörgeli seit jeher nicht nach Noten, sondern nach Gehör aus dem Bauch heraus.

Aus dem Spieler wurde ein Sammler

Mit etwa fünfzig Jahren kaufte er sich sein erstes eigenes Örgeli. Mittlerweile ist ­Richard Schönenberger 71 Jahre alt, und die Zeit hat aus ihm, dem Spieler, auch einen Sammler und Restaurator gemacht. Die Örgeli-Leidenschaft hat sich schleichend intensiviert. Sie hat sich ausgeweitet, und zwar bis auf Instrumente, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – vor der «Ära Iten» gebaut wurden – und die deshalb im strengen Sinn gar keine Schwyzerörgeli sind, sondern früher als Handharfen bezeichnet wurden.

Robert Iten kam 1859 in Unterägeri zur Welt. Er arbeitete als Fabrikspengler, nebenbei reparierte und stimmte er Handharmonikas. Als ihm der Ton seines eigenen Instruments immer weniger gefiel, beschloss er, es umzubauen. Im Gegensatz zu den Vorgängern kam sein Modell mit einer Mehrzahl an Tönen daher, was es ermöglichte, erweiterte Tonarten zu spielen. Die verstärkten, veredelten Töne sorgten für den typisch ländlich-schweizerischen Klang. 1883 baute Robert Iten seine erste Handharmonika fertig, und weil das Echo derart gut war, stellte er sie bald hauptberuflich im schwyzerischen Pfäffikon her, was dem Instrument den Namen «Schwyzerorgel» einbrachte.

Weitere Örgeli-Bauer wie Alois ­Eichhorn, Josef Nussbaumer und Ernst Salvisberg spezialisierten sich ebenfalls und stellten das Schwyzerörgeli in ihren heimischen Werkstätten in stundenlanger Hand- und Familienarbeit her. Bald schon fielen sie durch die besondere Qualität ihrer Instrumente auf, und das Schwyzerörgeli fand nach und nach seinen Weg in zahlreiche Schweizer Stuben.

Auch in Richard Schönenbergers Zuhause sorgen sie noch heute, Jahrzehnte nach ihrem Bau für Freude: Die Eichhorns, Nussbaumers oder Salvisbergs. An das Köfferchen mit dem ersten Exemplar reihte sich bald ein zweites, drittes, viertes und fünftes. Heute zählt seine Sammlung 17 Örgeli, deren Ursprünge von 1996 bis 1870 zurückgehen.

Immer wieder hält Richard Schönenberger Ausschau nach defekten und verstimmten Örgeli, die er in seiner eigenen Werkstatt restaurieren kann. Die Verkaufsangebote findet er in Zeitungen oder auf Auktionsplattformen im Internet. Inzwischen kennt er den einen oder anderen namhaften Händler und weiss die Einschätzungen zum Zustand des Instruments richtig zu deuten, wie er sagt: Wenn einer in der Annonce schreibe «gut erhalten, muss gestimmt werden», dann vermute er – je nach Verkäufer – bereits, dass die Mechanik wohl ebenfalls kaputt sein dürfte. «In den Anzeigen werden die Örgeli häufig etwas gar optimistisch beurteilt.»

Ob sich die Restaurierung für ­Richard Schönenberger lohnt, hängt nicht nur vom Zustand, sondern auch von der Marke des Instruments ab: «Bei einem Örgeli aus namhaftem Haus kann ich damit rechnen, dass die Stimmzungen aus hochwertigem Material gefertigt sind und nach dem Stimmen klanglich wieder überzeugen.» Meistens präsentieren die Händler Detailaufnahmen vom «Innenleben», also vom Resonanzkasten und von den Stimmplatten der Orgel. Je nach Preis schlägt er dann auch mal auf gut Glück zu. Seine Schmerzgrenze für den Blindkauf liegt bei 500 Franken: «Bei teureren Exemplaren fahre ich im Zweifelsfall hin und besichtige das Instrument.» Manchem Örgeli sieht und riecht man seine bewegte Vergangenheit an. Die Spielknöpfe – früher waren das Blusenknöpfe – sind abgefallen, die Original-Mechanik ist verzogen, und öffnet man das Gehäuse, schlängelt sich ein feiner Geruch von Tabakrauch in die Luft.

Bis zu 360 Stimmzungen werden von Hand gestimmt

Zu Hause bringt Richard Schönenberger das Örgeli in den Keller. Dort befindet sich seine Werkstatt, dort bohrt, drechselt, hobelt oder sägt er. Und: Dort stimmt er seine Örgeli. Der ursprünglich gelernte Maschinen-Zeichner hat dazu eigens eine Stimm-Vorrichtung gebastelt. Einmal eingespannt, kontrolliert er die Tonhöhe jeder einzelnen Stimmzunge – je nach Instrument sind es gut und gerne 360 Stück – mithilfe eines Stimmgerätes. Dann schleift er das kleine Stahlplättchen je nach Tonlage am einen oder anderen Ende sorgfältig ab, bis der Klang wieder stimmt.

Hin und wieder reicht das Stimmen allein allerdings nicht aus. So kommt es vor, dass Teile der Mechanik verrostet sind oder dass Lederstücke, die im Instrument als Ventil dienen, ersetzt werden müssen. Auch der Balg, das gefalzte Mittelstück, hat manchmal Risse, sodass beim Spielen ein Teil der Luft entweicht. In solchen Fällen fertigt Richard ­Schönenberger einen neuen Balg aus Karton, Leder und Papier.

Diese Ersatzteile zu finden, sei manchmal knifflig, sagt er. Den Balgkarton hat er online in Deutschland bestellt, die Musterung für die Gehäuseverzierung hat ihm sein Sohn am Computer nachdesignt, und die Schlitz-Schrauben, die es in keinem Baumarkt zu kaufen gab, fand er schlussendlich doch noch in seinem eigenen Material-fundus.

Noch hat er stets eine Lösung gefunden, dennoch möchte Richard ­Schönenberger so wenig wie möglich verändern: «Mit jedem Stück, das ersetzt wird, verliert das Instrument von seinem authentischen Charme.»

Wertvolle Instrumente für Liebhaber

Bis heute hat Richard Schönenberger ein Dutzend Schwyzerörgeli restauriert. Wenn es passt, verkauft er auch mal das eine oder andere weiter, wie sich das bei zwei Exemplaren aus den 1960er-Jahren ergeben hat. Die meisten Instrumente aber sind ihm nach der Restauration ans Herz gewachsen und bleiben in seiner Sammlung.

Die Szene in der Schweiz sei überschaubar, sagt Richard Schönenberger. Schwyzerörgeli sind Liebhaberstücke, deren Wert das Laienauge kaum zu erkennen vermag. Ab 2000 Franken geht es aufwärts – für ein «ausnehmend gutes Exemplar» klettert der Preis auch einmal in den zweistelligen Tausenderbereich.

Gespielt aber wird jedes seiner Instrumente von Zeit zu Zeit. Das Musizieren mit dem Örgeli sei für ihn zu einem festen Ritual geworden, sagt er, «zu einer Art Meditation». Meistens spielt Richard Schönenberger für sich, und ab zu auch für kleinere Gesellschaften.

Mit den Jahren haben die Örgelibauer die Spielmechanik immer mehr verfeinert. Je neuer das Örgeli, desto einfacher und müheloser lassen sich die ­«Stückli» und «Tänzli» spielen, die ­Richard Schönenberger so gut gefallen. Es sind vor allem traditionelle Klänge aus dem Muotathal, im sogenannten Innerschweizer Stil. Für ihn sind diese harmonisch besonders interessant, weil sie häufig nicht nur virtuos gespielt sind, sondern weil sich in ihnen auch melodiöse Einflüsse vergangener Zeiten aus Italien und dem Tirol wiederfinden.

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