«Was mich antreibt, ist die Neugierde»

Er war ganz oben, als Stärkster im Sägemehl am Eidgenössischen 2016, und ganz unten, nach einem Zwölf-Meter-Sturz von einer Seilbahngondel. Die Geschichte von Matthias Glarner ist auch eine Geschichte der Extreme. In ihrem Buch «Dream Big» lässt Anja Knabenhans hinter die Fassade blicken.

«Die Leute sollen sich für ihr persönliches Leben etwas herausnehmen können.» Autorin Anja Knabenhans mit ihrem Buch über Schwingerkönig Matthias Glarner in der Begegnungszone ihres Wohnorts Affoltern. (Bild zvg.)
«Die Leute sollen sich für ihr persönliches Leben etwas herausnehmen können.» Autorin Anja Knabenhans mit ihrem Buch über Schwingerkönig Matthias Glarner in der Begegnungszone ihres Wohnorts Affoltern. (Bild zvg.)

«Mein Körper krümmt sich. Ich beuge mich nach vorne, erbreche. Vorsichtig einatmen. Ja, jetzt ist es besser. Nochmals einatmen, diesmal tiefer. Okay. Langsam wieder aufrichten.» Der Einstieg, den Anja Knabenhans für ihr Buch über Matthias Glarner gewählt hat, bricht mit Konventionen. Die beschriebene Szene hat sich am Morgen des zweiten Wettkampftags am Eidgenössischen Schwingfest 2016 in Estavayer abgespielt, an dem Tag also, an dem er seine imposante Sportler-Laufbahn mit dem Schwingerkönig-Titel krönen ­sollte.

Der Kontrast zwischen der Aussensicht, dem «Bösen», dem Muskelberg, und dem Menschen dahinter, der in diesem Fall kotzen muss, wenn er unter Druck steht – Themen wie dieses sind es, die Anja Knabenhans, die in Affoltern aufgewachsen ist und mittlerweile wieder hier wohnt, am Spitzensport ­faszinieren. Zum Schwingen ist sie eher zufällig gekommen. «Als ich 2006 frisch zur NZZ kam, war das grad frei», blickt sie zurück. So wurde sie spontan ans Unspunnenfest geschickt und liess sich dort begeistern von einer Sportart, die Taktik und Unvermitteltes vereint. Von Spitzenathleten, die zugänglich sind und frei von der Leber sprechen. So nimmt sie es Nöldi Forrer, Rekordkranzgewinner und Schwingerkönig von 2001, auch nicht übel, dass dieser sie einst am Kilchbergschwinget nach einer Frage als «dummi Schesä» bezeichnete hatte. Gefallen fand sie weiter an der gemütlichen Stimmung an den Schwingfesten. An der Chance, in einem boomenden Sport zur Expertin zu reifen und die klassische Berichterstattung aufzufrischen.

Und wie wurde sie als junge Frau von der sehr traditionellen Szene aufgenommen? «Es gab schon ­sexistische Sprüche», sagt sie, «aber je länger, je weniger.»

«Funky fresh» statt klassisch

Dabei habe Sportjournalistin zu werden nie auf ihrem Lebensplan gestanden, verrät Anja Knabenhans. «Was mich antreibt, ist die Neugierde.» So hat sie schon für die Migros ein Tiptoi-Buch geschrieben, Hörspiele verfasst, etwa wie die Fernsehmoderatoren Nik Hartmann und Andrea Jansen für neue Kasperli-Geschichten. Gemeinsam mit jener Andrea Jansen und mit Uitikerin Rebecca Krausse betreibt sie zudem das Online-Magazin «Any Working Mom». Da gehe es nicht darum, ein Rollenbild gegen ein anderes auszuspielen, Ziel sei vielmehr eine selbstbestimmte Elternschaft: «Jede Familie soll ihr Modell so gestalten, wie es für sie stimmt», erklärt Anja Knabenhans. Dabei stehe das «Working» nicht nur für Erwerbsarbeit. «Jede Mutter arbeitet», betont sie und hält Sprüche wie «Was, nur Hausfrau?» für ebenso unangemessen wie: «80 Prozent arbeiten – wieso habt ihr dann überhaupt Kinder in die Welt gesetzt?»

«Funky fresh», also erfrischend ­anders, so hat sich Matthias Glarner ­seine Biografie gewünscht. Angebote von Verlagen gab es schon zu seiner ­Aktivzeit – zu früh für ihn. Jene von Werd & Weber kam dann zum richtigen Zeitpunkt und so hat er von sich aus Kontakt mit der Affoltemerin aufgenommen. Dabei hatten sie sich vorher kaum mehr als zehnmal ausgetauscht, an Schwingfesten und zu Interviews. Erst mit dem Buchprojekt sollte der Kontakt viel intensiver werde – nicht nur mit dem hart arbeitenden Spitzenathleten selber, sondern auch seinem ganzen ­familiären und professionellen Umfeld. So kommen im Buch etwa auch Sportpsychologe Robert Buchli und Athletiktrainer Roli Fuchs mit praktischen ­Inputs zu Wort. «Mit dieser Einordnung hat es für mich gestimmt», so die Autorin. Und hat sie den Entscheid, das Buch zu schreiben, auch mal bereut? «Ja, mehrmals», sagt sie und lacht. So habe sie im Januar und Februar oft bis in die Nacht hinein gearbeitet und sich an den Wochenenden aus dem Familienleben zurückgezogen. «Ich kann nichts halbbatzig machen», sagt sie. Aber das Buchprojekt sei ja zeitlich befristet gewesen und so habe sie nie daran gezweifelt, dass es gut kommt.

Keine Tabuthemen

Gut gekommen ist es auch für Glarner in Estavayer: «Ein genialer Wettkampftag, ich bin voll drin», heisst es in der Biografie. Und weiter: «In einer Sportlerlaufbahn gibt es nicht viele Momente, in denen man dieses Gefühl erreicht. Im Flow kann man in den Kampf gehen, ohne viel nachzudenken. Die Schwünge kommen instinktgetrieben, genau im richtigen Moment. Ich bin ja eher einer, der sich sehr viel Gedanken macht. Aber jetzt: null Zweifel, nur Sicherheit.» Und zwei Seiten später beschreibt der Athlet, wie er mental mit Bildern arbeitet, sich selber im Wettkampf von aussen ­betrachte. Nicht immer falle ihm das leicht, aber an diesem Wochenende sei es wie geschmiert gelaufen: «Jedes Mal, wenn ich den Namen meines nächsten Gegners höre, sehe ich sofort vor mir, wie ich ihn bezwingen kann.» Als kurz vor dem Schlussgang die Stimmung kippt, sich negative Gedanken in seinem Kopf festkrallen, zieht Glarner selbst daraus Energie: «Diese negativen Gedanken vor dem Schlussgang sind hilfreich, weil sie mich sehr wachsam machen.» So hält Glarner den Attacken von Armon Orlik stand, bis er nach 13½ Minuten seine eigene Chance sieht – und diese packt.

Tabuthemen habe es in ihren zahlreichen Gesprächen mit dem Schwingerkönig keine gegeben, betont Anja ­Knabenhans. Was nicht heisst, dass alles Erzählte auch im Buch vorkommt. «Darüber zu schreiben, wen er nicht mag, ist völlig unnötig», nennt die ­Autorin ein Beispiel. Ein Thema aus den Gesprächen, das es ins Buch geschafft hat, ist Doping. Vom wissenschaftlichen Standpunkt her finde er zwar interessant, was sich alles noch optimieren liesse, aber von Dopingmissbrauch halte er gar nichts: «Ich will kein Betrüger sein, will jeden Tag in den Spiegel schauen und mich dabei gut fühlen.» Auch dem Zwölf-Meter-Sturz vom Dach einer Gondel im Rahmen eines Fotoshootings ist ein Kapitel gewidmet und danach dem harten Weg zurück vom Spitalbett ins Sägemehl – wenn auch nicht mehr ganz an die Spitze.

«Bereichernde Zusammenarbeit»

«Sprich mit möglichst vielen Leuten, um ein rundes Bild zu bekommen.» Diesen Tipp von einem Kollegen hat sich Anja Knabenhans zu Herzen genommen. In ihrem Buch zeigt sie nicht nur auf, wie «Mätthel» – wie Glarner genannt wird – tickt, sondern auch wie seine Familie, sein Trainingsumfeld funktioniert. So spricht das Buch nicht nur Leute an, die sich für den Schwingsport begeistern. Schliesslich geht es um Themen, die ­jeden und jede im Alltag betreffen: Wie lässt sich eine Krise bewältigen, wie der Fokus finden? Was tun, wenn man sich zu viel vorgenommen hat, wenn einen die Angst lähmt? «Die Leute sollen sich für ihr persönliches Leben etwas herausnehmen können», so die Autorin.

Am 5. Oktober soll ihr Buch in Thun offiziell vorgestellt werden. Erhältlich ist es bereits heute, etwa im «Weltbild» im Coopark oder in der Buchhandlung Scheidegger in Affoltern. In ihrem persönlichen Exemplar hat Anja Knabenhans eine handschriftliche Widmung von Matthias Glarner: «Die Zusammenarbeit hat unglaublich viel Spass gemacht und war für mich total bereichernd! Merci für alles!»

Anja Knabenhans: «Dream Big», Werd & Weber Verlag, 268 Seiten, 16×23 cm, gebunden,

Hardcover, mit 34 Abbildungen,

ISBN 978-3-03818-315-0.

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