«Es braucht einen wachen Geist»

Rhea Seleger tritt regelmässig an Poetry Slams auf. Im Interview erzählt die gebürtige Mettmenstetterin, was eine gelungene Performance mit Nähe zu tun hat und warum Inspiration kein Zufall ist.

Rhea Seleger ist in Mettmenstetten aufgewachsen. Die 31-Jährige arbeitet als Schauspielerin, Sängerin, Sprecherin und Slam Poetin. <em>(Bild Livia Häberling)</em>
Rhea Seleger ist in Mettmenstetten aufgewachsen. Die 31-Jährige arbeitet als Schauspielerin, Sängerin, Sprecherin und Slam Poetin. <em>(Bild Livia Häberling)</em>

«Anzeiger»: Sie moderieren am Samstag den Poetry Slam in Affoltern. Auf welcher Bühne startete Ihre eigene Slam-Laufbahn?

Rhea Seleger: In der Acapulco Bar in Zürich, vor etwa fünf Jahren. Das war allerdings eher Zufall. Ich hatte zwar schon von Poetry Slam gehört, aber nie einen besucht. Irgendwann bin ich im Internet zufällig auf einen Veranstaltungshinweis gestossen, las dort: «Slammerinnen und Slammer gesucht», und hab mich gleich angemeldet.

Einfach so, ganz spontan?

Ja. Ich weiss nicht, was ich mir in diesem Moment überlegt habe (lacht). Nun brauchte ich ja innert drei Wochen dringend einen Text, beziehungsweise zwei, fürs allfällige Finale noch einen. Ich hatte zwar als Teenie schon geschrieben, jedoch nicht sehr regelmässig. Als ich mit meinem Text auf die Bühne sollte, war ich unglaublich nervös. Doch das Feedback aus dem Publikum war positiv, ich schaffte es ins Finale. Danach trat ich ein Jahr lang jeden Monat im «Acapulco» auf.

Inzwischen haben Sie jährlich zirka 70 Auftritte. Das braucht reichlich Textmaterial…

Ja. Allerdings bleibt schlicht zu wenig Zeit, um wöchentlich neue Texte zu schreiben, die den eigenen Ansprüchen genügen. Deshalb ist es üblich, Geschriebenes mehrmals vorzutragen. Das ist okay, solange man sie nicht zeitnah am gleichen Ort wiederholt. So entspannt sich das Ganze, im Schnitt schreibe ich alle zwei, drei Monate neue Slamtexte.

Wie lange arbeiten Sie an einem Text?

Das variiert. Es gibt Texte, die ich in einer Nachtaktion schreibe, am nächsten Tag überarbeite, und dann steht die Rohfassung. Sechs Stunden sind die untere Grenze, aber das ist mega sportlich. Andere Texte bearbeite ich über mehrere Monate laufend. Dann sind es schnell mal 30 Stunden aufwärts.

Nur für die Schreibarbeit?

Ja. Da ist die Performance, beispielsweise das Auswendiglernen, teilweise noch nicht eingerechnet.

Wo finden Sie Ihre Themen?

Manchmal habe ich konkrete Vorgaben. Letzten Monat habe ich beispielsweise an einem Reformations-Slam mitgemacht. Der fand in der Kirche statt, da war das Thema klar: Zwingli.

Und falls Sie keine Vorgabe haben?

Die Themen verstecken sich überall. Man muss für sich einen Weg finden, um neue Impulse zu generieren.

Muss man die Inspiration suchen, damit man sie findet?

Es braucht einen wachen Geist, eine Offenheit, um bewusst aufzunehmen und wahrzunehmen. Das kann auch passieren, indem man in einem Café sitzt und das Geschehen auf sich wirken lässt. Es ist wichtig, sich nicht nur zu leeren, sondern neues Rohmaterial für Texte aufzustöbern.

Rohmaterial im Kopf macht allerdings noch keinen Text. Wie gehen Sie die Schreibarbeit an?

Ich habe die Angewohnheit, sie bis im letzten Moment aufzuschieben. Der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen zeigt mir jedoch, dass ich mit diesem Problem nicht alleine bin. Viele schreiben total gerne, aber ohne Druck geht wenig. Ich funktioniere glücklicherweise recht gut so.

Unter Zeitdruck vor dem leeren Blatt zu sitzen, auf die Muse zu warten, und die Nerven zu behalten, gelingt nicht allen…

Wenn ich mich mal hingesetzt habe, fällt mir meistens etwas ein. Mich hemmt eher diese kritische Stimme im Hinterkopf, die mir ständig reinschwatzt. Ich schreibe zwei, drei Sätze und finde dann: «Das kannst du so nicht bringen, es tönt noch nicht gut.» Das kann den kreativen Fluss ziemlich hemmen.

Was macht eine gelungene Performance aus?

Für mich ist es wichtig, dass die Darbietung authentisch ist. Ich muss es der Person abkaufen, dass sie weiss, wovon sie spricht. Ausserdem muss das Erzählte für mich auch nachvollziehbar sein. Man spürt es, wenn die Person auf der Bühne eine Situation erlebt, während sie erzählt. Das ist meist der Moment, in dem die Worte mich berühren.

Es braucht also Nähe zwischen Text und Autorin, sodass auch Nähe zwischen Text und Publikum entstehen kann?

Oft, ja. Dabei ist es nicht wichtig zu wissen, wie diese Person zum Thema steht. Am Ende ist das irrelevant. Eine gelungene Performance lässt Raum für eigene Bilder und Interpretationen.

Muss ein Slamtext zwingend etwas zu sagen haben? Oder reicht es, wenn er etwas erzählt?

Ein Text braucht eine Botschaft. Welche das ist, hängt vom Stil der Poetin oder des Poeten ab. Manche haben ein Flair für Wortspiele, andere eher für Lyrisches oder Humoristisches. Eine Botschaft kann sein: «Schau mal, wie spielerisch man mit Worten umgehen kann», oder «schau mal, wie absurd unsere Sprache ist.» Es muss ja nicht jeder Text so moralschwanger daherkommen.

Sind sechs Minuten auf der Bühne eine kurze oder eine lange Zeit?

Das kann unglaublich krass variieren. Am Anfang empfand ich sie als lang, bei meinen ersten paar Auftritten hoffte ich bloss, in den paar Minuten nicht in Ohnmacht zu fallen (lacht). Wenn es auf der Bühne wirklich läuft, rast die Zeit.

Etrit Hasler schrieb mal: «Poetry Slam ist Literatur als Sport.» Würden Sie Slamtexte als Literatur bezeichnen?

Schon, ja. Sie existieren ja als geschriebene Texte und ein Grossteil funktioniert auch gelesen. Aber klar, es gibt auch Darbietungen, die nur auf der Bühne funktionieren.

Warum muss man aus dem Schreiben einen Sport machen?

Diese Frage diskutiere ich oft. Es ist ja total absurd, diese einzigartigen Darbietungen miteinander zu vergleichen, aber wir machens trotzdem. Es motiviert, weil ein bisschen mehr auf dem Spiel steht, auch wenn der Preis, eine Flasche Whisky, bloss symbolischen Charakter hat. Die Szene ist sehr familiär, der Wettbewerb spielt tatsächlich nur eine winzige Rolle.

Kein Konkurrenzdenken, kein Neid, gar nichts?

Höchstens während des Auftritts, aber auch da ist der Wettkampf eher spielerisch. Neben der Bühne erlebe ich die Szene als extrem unterstützend, wir geben Feedback, empfehlen uns gegenseitig weiter. Mit vielen bin ich gut befreundet und schätze ihre Meinung zu meinem Schaffen sehr.

Haben Sie auch schon einen Poetry Slam gewonnen?

Ja, aber nicht so oft. Ich schaffe es regelmässig ins Finale, gewinne jedoch selten.

Wie bitter ist diese Erkenntnis?

Am Anfang hat mich das mega beschäftigt. Da habe ich mich gefragt, ob meine Texte für die Bühne vielleicht doch nicht geeignet sind. Inzwischen habe ich gelernt, das Scheitern nicht als absolut zu sehen und mich davon antreiben zu lassen.

Funktionieren gewisse Textgattungen beim Publikum besser als andere?

Humor funktioniert schon recht zuverlässig. Ich habe mich jedoch am Anfang dagegen gesträubt, dem Druck nachzugeben, lustig sein zu müssen.

Warum?

Ich hatte einen anderen Anspruch an mich und meine Texte. Auf der Bühne konnte ich andere Facetten von mir, beispielsweise meine traurige Seite, zeigen. Das war mir viel wert. Und ich fühlte mich dabei wohler, als Slapstick zu machen.

Wieso punkten leisere Texte weniger?

Sie verändern die Stimmung im Raum. Mich fesselt das, wenn Beiträge es schaffen, das Publikum in eine andere Atmosphäre zu versetzen. Aber wenn ein Text nachdenklich macht, ist man möglicherweise ein bisschen benommen, bricht nicht umgehend in Jubel aus. Es kann also sein, dass man dann tiefer bewertet wird. Was nicht zwingend heisst, dass der Beitrag beim Publikum weniger angekommen ist.

Poetry Slams wurden in den letzten Jahren immer populärer. Hat sich dadurch das Publikum verändert?

Die Erwartungshaltung des Publikums spielt eine grosse Rolle. Ich glaube aber, dass die Vorlieben schon früher variierten. Manche mögen Unterhaltendes, andere eher Ruhiges, Tiefgründiges. Es steht und fällt alles mit der Konstellation des Abends.

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