Kampf gegen das ungute Bauchgefühl

Fünf Prozent der Bevölkerung in der Schweiz sind Muslime. Umfragen zeigen jedoch, dass viele Menschen das Gefühl haben, es seien mehr. Auch wird die Religion nicht als friedlich wahrgenommen. Weshalb das so ist, darüber referierte ein hochkarätiges Quintett in Kappel.

Die Rednerinnen und Redner zum Thema «Muslime in der Schweiz» vom links: Samuel M. Behloul, Eliane Ursula Ettmüller, Moderatorin Amira Hafner-Al Jabaij, Jasmin El Sonbati, Amir Dziri und Fachstellenleiter Christoph Balmer. <em>(Bild Martin Platter
Die Rednerinnen und Redner zum Thema «Muslime in der Schweiz» vom links: Samuel M. Behloul, Eliane Ursula Ettmüller, Moderatorin Amira Hafner-Al Jabaij, Jasmin El Sonbati, Amir Dziri und Fachstellenleiter Christoph Balmer. <em>(Bild Martin Platter)</em>

So wie Amir Dziri geht es vielen. Der Professor für islamische Studien in der Schweiz und Direktor des schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft an der Uni Fribourg versucht bei seiner Arbeit, die persönlichen Gefühle aussen vor und die Fakten sprechen zu lassen. Bei seinem Input-Referat zum Thema «Muslime in der Schweiz – zwischen Integration und Parallelgesellschaft» gab der 35-Jährige jedoch zu, dass dies auch ihm nicht immer gleich gut gelinge. Seine Worte verhallten nicht ungehört. Das Forum Kirche und Wirtschaft der katholischen Kirche Zug hatte am Mittwochabend zum Thema geladen – und damit offenbar den Nerv getroffen, denn der Kappeler Gemeindesaal war bis auf den letzten Platz besetzt.

Dziri ist mit seinem Bauchgefühl nicht alleine. Wie ist es sonst zu erklären, dass ausgerechnet in Ländern wie Polen und Ungarn, in denen der Anteil Muslime in der Bevölkerung gerade mal bei 0,1 Promille liegt, die Leute das Gefühl haben, es seien 600 (Ungarn) bis 700 Mal mehr? In den USA liegt die subjektive Einschätzung um Faktor 17 daneben. Konkret: In Amerika liegt der Anteil Muslime in der Bevölkerung bei 1 Prozent. Bei Umfragen wurde der Anteil jedoch auf 17 Prozent geschätzt. Interessant ist: Je höher der Anteil Muslime in der Bevölkerung ist, desto präziser wird die Einschätzung bei Umfragen. In Russland, wo jeder zehnte einer islamischen Glaubensgruppe angehört, liegt der Faktor noch beim 2,4-fachen. Für Dziri ist klar: «Religion wird gezielt genutzt, um Abgrenzung herzustellen.» Die Islamdebatte sei deshalb ein Testfall für die liberalen Gesellschaften. Das zeige sich insbesondere in der Politik und den Medien.

Probleme werden der Religions- zugehörigkeit zugeschrieben

Probleme würden im Westen wieder vermehrt unter dem Gesichtspunkt der Religion verortet. Im Gegenzug sei die institutionelle Religion in diesen Gesellschaften jedoch am Abnehmen. Die Landeskirchen verlören an politischem und gesellschaftlichem Stellenwert. Es gebe immer mehr Konfessionslose. Je pluralistischer eine Gesellschaft werde, desto schwieriger sei es, Werte und Normen zu definieren, die von allen akzeptiert würden. Dazu komme, dass im Islam die Lehre vorherrsche: Scheitert der Islam, scheitern alle anderen Religionen ebenfalls. Diese absolute Haltung, der die philosophischen Zwischentöne fehlten, machten eine Modernisierung schwierig. Die Herausforderung sei, eine positive islamische Religionsidentität zu schaffen, die nach innen nicht repressiv ist und sich nach aussen nicht verschliesst.

Religionswissenschaftler Samuel Behloul machte in seinen Ausführungen noch auf ein anderes Phänomen aufmerksam. Durch die starke Zuwanderung seien eine Menge «fremder» Christen in die Schweiz gekommen, die zu einer weiteren Fragmentierung der Glaubensrichtung führen. Pointiert meinte er: «Wir werden nicht schleichend islamisiert, sondern christianisiert.» Die Schweiz sei ein multichristliches Land geworden. Das führe auch zu Irritationen. Behloul führte danach rund ein Dutzend kurze Filmsequenzen vor, die höchst unterschiedliche Gottesdienste aus verschiedenen christlichen Kulturen zeigten. Er sagte: «Liberale Gesellschaften ertragen beliebig viele Religionen.» Die Ökumene müsse aber neu definiert und die Kirche müsse wieder politischer werden. Die gegenseitige, defizitorientierte Wahrnehmung der verschieden Religionen verhindere dagegen den Dialog.

Keine schleichende Islamisierung

Für die anschliessende Podiumsdiskussion bat SRF-«Sternstunde-Religion»-Moderatorin Amira Hafner-Al Jabaij die Islamwissenschaftlerin Eliane Ursula Ettmüller und die Basler Gymi-Lehrerin und Islamaktivistin Jasmin El Sonbati zu den beiden Männern auf die Bühne. Auf die Frage nach ihrer Sozialisierung antwortete die Zugerin Ettmüller, sie sei in erster Linie eine bekennende Auslandschweizerin. Gedanken zur religiösen Zugehörigkeit hat sich die Christin erst gemacht, als sie in Madrid Politik- und Islamwissenschaft studierte und ihre religiöse Zugehörigkeit plötzlich thematisiert wurde.

El Sonbati lebte in ihrer Jugend in Wien und Kairo und kam 1973 mit ihren Eltern in die Schweiz. Sie sei Muslimin seit sie denken könne, habe in Ägypten allerdings noch einen liberalen, weltoffenen und progressiven Islam nach heutigen, westlichen Gesellschaftsmustern erlebt. Mit ihrer Initiative «Offene Moscheen Schweiz» strebt die 58-Jährige an, dass Männer und Frauen gemeinsam beten und Frauen das Gebet auch leiten dürfen. In letzter Zeit stelle sie jedoch auf der ganzen Welt eine vermehrte Zuschaustellung des streng religiösen Islams. Das sei bedauerlich, fand auch Dziri. Ettmüller sagte: «Solange religiöser Fanatismus zu Massakern führt, bin ich pessimistisch, dass sich an dieser Zuschaustellung der Religion etwas ändern wird.» Die Krux sei, dass mit diesen Kriegen Flüchtlingsströme ausgelöst würden und damit diese Kriege auch in anderen Ländern ankommen. Auf die Frage, was Abhilfe schaffen könnte, vertrat Ettmüller eine dezidierte Meinung: «Indem wir stringent unsere Verfassung durchsetzen.»

Alle Podiumsteilnehmer waren sich einig, dass nur gegenseitige Toleranz und gegenseitige Offenheit den Kampf der Religionen und die Radikalisierung einzelner und ganzer Gruppen verhindern kann. Ein besonderes Augenmerk gelte es auf die sozialen Medien und Fake News ganz allgemein zu richten. Aus dem Publikum kamen dazu keine weiteren Anmerkungen.

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