Das Haus der Obfelder Hebamme

Sommerserie «Bauten und Menschen»: Berta Vollenweider half über 3000 Ämtler Babys beim Start ins Leben

Das Bauernhaus der Familie Vollenweider hat den fürs Knonauer Amt typischen «Knick» im Dach und ist dreigeteilt: Wohnhaus, Scheune und Stall. (Bild Regula Zellweger)

Das Bauernhaus der Familie Vollenweider hat den fürs Knonauer Amt typischen «Knick» im Dach und ist dreigeteilt: Wohnhaus, Scheune und Stall. (Bild Regula Zellweger)

Berta Vollenweider trug meist die Ämtler Werktagtracht.

Berta Vollenweider trug meist die Ämtler Werktagtracht.

Die Hebamme Berta und ihr Mann Otto Vollenweider mit den sieben Kindern. Das Jüngste ist unterwegs. 
(Archivbilder zvg)

Die Hebamme Berta und ihr Mann Otto Vollenweider mit den sieben Kindern. Das Jüngste ist unterwegs. (Archivbilder zvg)

«Für Geburt und Wochenbettpflege»: eine Hebammen-Rechnung von 1951.

«Für Geburt und Wochenbettpflege»: eine Hebammen-Rechnung von 1951.

Das Bauernhaus steht an der Wolserstrasse im heutigen Obfelder Ortsteil Wolsen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Elternhaus von Berta Vollenweider, die 1897 als Berta Meier zur Welt kam, neu auf die Fundamente eines Holzhauses gebaut, dessen Keller geblieben ist. Das Bauernhaus ist quer dreigeteilt und besteht aus dem dreistöckigen Wohnhaus, Scheune und Stall, wo heute noch Kühe untergebracht sind.

«Als ich ein Kind war, wohnten ein Dutzend Leute in unserem Haus: meine Eltern Otto und Berta Vollenweider, acht Kinder, ein Dienstmädchen und ein Knecht. Ich erinnere mich, dass wir alle zusammen das Frühstück einnahmen», erzählt Hans Vollenweider, das letzte überlebende der acht Kinder der Hebamme. Die vier Jungen schliefen in einem Zimmer. Die Mädchen in einem anderen, bis Selma, die Älteste, welche die Hausarbeiten und Betreuung der kleineren Geschwister übernahm, das Dienstmädchenzimmer beziehen durfte, eine äusserst kleine Kammer.

Hans Vollenweider berichtet über den Fund von vielen viereckigen Münzen, die scheinbar keinen monetären Wert mehr besassen, als sie in einem Sack auf dem Estrich gefunden wurden. Man legte sie an die Strasse, und wer wollte, durfte sich bedienen.

Weit über die Pensionsgrenze hinaus

Nach Bertas Grossvater, dem Küfer ­Robert Meier, ist in Obfelden eine Strasse benannt: der Küferweg. Das Wohnhaus mit Werkstatt befand sich gegenüber dem Gasthof Löwen an der Dorfstrasse. Hier wuchs Berta Meier zusammen mit zwei Brüdern und drei Schwestern auf. Ihr Primarschulzeugnis ist erhalten – sie war mit lauter Sechsen Klassenbeste, auch in der Oberstufe.

Berta Meier ehelichte 1925 den Wolser Bauern Otto Vollenweider. Mit 28 Jahren war sie damals wahrscheinlich eher eine «späte Braut». Sie war berufstätig und blieb es bis ins hohe Alter. Sie gebar acht Kinder. Alle erlernten auf Geheiss der Mutter einen Beruf, für Sohn Hans hatte sie selbst eine Schreiner-Lehrstelle in Mettmenstetten gefunden. Als Hebamme war sie gut in der Region vernetzt. Sie betreute Schwangere, Gebärende und Wöchnerinnen zuhause, Geburten auch im Spital Affoltern.

Berta Vollenweider übte ihren Beruf, der ihre Berufung war, bis ins Alter von über 70 Jahren aus. Sie starb am 31. Mai 1997.

Mit dem Velo zu Hausgeburten

Ehemann Otto Vollenweider, eher Pferdenarr als technikbegeistert, machte die Fahrprüfung und kaufte 1931 ein Auto. Seine Frau fuhr zwar meist mit dem Velo zu Hausgeburten – ein Auto wäre für sie eine Erleichterung gewesen. Mit dem Erlernen des Autofahrens klappte es aber nicht. In Hedingen fuhr sie in ein Scheunentor und gab das Unterfangen auf. In der Folge wurde sie vom Mann, später auch von den Kindern zu Gebärenden gefahren. «Ich war noch nicht 18, als ich das Auto lenkte. Oft brachte ich meine Mutter zu Patientinnen oder ins Spital. Ich erinnere mich an eine Geburt, die bereits im Auto begonnen hatte, als wir im Spital eintrafen. Manchmal musste ich im Auto vor dem Spital warten, im Winter war es bitterkalt», erinnert sich Hans Vollenweider. Das Auto der Hebamme kannte man: ZH 16130. Manchmal wurde sie mit dem Pferdewagen vor dem Spital zum Dienst vorgefahren, auf dem Kutschbock ihr Mann Otto.

«Unsere Mutter machte mit uns manchmal Ausflüge, beispielsweise auf die Treib. Onkel Reinhold, der in Zug bei der Bahn arbeitete, ermöglichte solche Reisen. Er erinnert sich auch an einen Besuch auf der Ebnet Alp, wo das Vieh gesömmert wurde: «Papst Pius sah von der Wand auf uns herab.» Zudem erinnert er sich an die Landesausstellung 1939, die er mit der Mutter besuchte: «Vor allem an den Schifflibach.»

Bei Familie Vollenweider sparte man, aber man knauserte nicht. Mutter Berta kaufte dem Sohn einen «Tschope», zu gross, die Ärmel konnte man umschlagen, denn der Junge wuchs ja noch. Im Keller lagerte immer Süssmost für die Familie und die Kinder waren immer sauber gekleidet, die Mädchen, wie die Mutter, in der Ämtler Werktagtracht, dem «Bureföifi».

Beruflich war Berta immer auf Abruf bereit, Tag und Nacht. «Manchmal haben wir die Mutter zwei Tage nicht gesehen», so Hans Vollenweider. Trotzdem – oder erst recht: Sie war eine liebe, fürsorgliche Frau, später eine liebe Grossmutter – Zärtlichkeit kannte man aber zu dieser Zeit kaum.

Beliebte Hebamme

Die heutige Frau von Hans Vollenweider, er hat mit fast 90 Jahren nochmals geheiratet, erinnert sich an die Geburt ihres Sohnes Patrick 1968: «Ich bekam meinen Sohn etwas zu früh im Spital Affoltern. Er hatte die Nabelschnur zwei Mal um den Hals. Berta Vollenweider blieb ruhig und ich fühlte mich sicher. Es war kein Arzt anwesend.» Von dieser Geburt zeugt ein Eintrag im Hebammenbuch, deren sieben bis acht Berta Vollenweider mit akkurater Schrift zuverlässig nachführte.

Ein weiteres Dokument aus der Hand der Hebamme besitzt Familie Wetli: eine handgeschriebene Rechnung über 70 Franken für Geburt und Nachbetreuung zuhause, aus dem Jahr 1951. Felicitas Wetli war Kinderkrankenschwester und bei den Geburten im Spital stets dabei.

Felicitas Wetli arbeitete ab 68 mit Berta zusammen und erinnert sich an die Beleghebamme für Obfelden, Ottenbach und Maschwanden. «Sie kam immer fröhlich zur Arbeit. Ich sehe sie heute noch vor mir, wie sie in der braunen Ämtler Werktagtracht schwungvoll ins Spital kam und sich die weisse Schürze überzog. Sie war in ihren Einstellungen zur Geburtshilfe offen und im Umgang mit Mutter und Kind herzlich, völlig natürlich. Die Leute haben sie gerngehabt.»

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