Jeder Stich zählt
Ivana Ziltener erklärt, warum das Tätowieren für sie mehr ist als ein Handwerk

«Anzeiger»: Ivana Ziltener, wie würden Sie den künstlerischen Unterschied zwischen Haut und Leinwand beschreiben – was macht die Haut zu einer besonderen Arbeitsfläche?
Ivana Ziltener: Für mich sind Zeichnen auf Leinwand und Tätowieren zwei völlig verschiedene Welten. Beim Tätowieren gibt es nur einen Versuch – wegradieren oder neu anfangen geht nicht. Jeder Strich bleibt auf der Haut. Wenn etwas schiefläuft, bleibt oft nur ein Cover-up oder eine Laserbehandlung – beides ist schmerzhaft und kann teuer werden. Diese Endgültigkeit macht das Tätowieren für mich besonders. Es erfordert volle Konzentration bei der Arbeit und vor allem Respekt – vor der Haut und vor dem Menschen dahinter. Jede Tätowierung ist eine grosse Verantwortung, und genau das liebe ich an meinem Beruf.
Gab es einen Wendepunkt in Ihrer Karriere, an dem Sie merkten: Jetzt habe ich meinen eigenen Stil?
Am Anfang haben sich meine Kolleginnen und Kollegen «geopfert» und waren meine ersten Kunden. Ich habe viel geübt, an jedem Detail gearbeitet und wollte mich ständig verbessern. Mit der Zeit hat sich mein eigener Stil entwickelt, und deshalb kommen die Leute heute zu mir. Jeder zufriedene Kunde, jede zufriedene Kundin motiviert mich aufs Neue. Dieser Drang, mich weiterzuentwickeln, ist geblieben – und das macht mich als Künstlerin aus.
Wie viel psychologische Verantwortung trägt man in diesem Beruf?
Als Tätowiererin trage ich nicht nur künstlerische, sondern auch emotionale Verantwortung. Viele Kunden erzählen mir sehr persönliche Geschichten – ein Tattoo steht oft für Verlust, Neuanfang oder einen wichtigen Lebensabschnitt. Hinter jedem Motiv steckt eine Geschichte, manchmal eine schöne, manchmal eine schwere. Und ja, manchmal fliessen auch Tränen.
Welche Vorurteile begegnen Ihnen noch heute – und welche würden Sie gerne ausräumen?
Viele denken, Tattoo-Artists seien unnahbar oder oberflächlich. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Ich bin eine gute Zuhörerin, und viele Kunden öffnen sich während des Stechens. Es entstehen oft sehr persönliche Gespräche, die mich manchmal lange beschäftigen. Andere schweigen, das respektiere ich ebenso. Tätowieren ist nicht nur ein Handwerk, sondern erfordert Feingefühl und Empathie. Zum Glück verschwinden viele Vorurteile, aber manche Klischees, etwa die Verbindung von Tattoos und Kriminalität, halten sich hartnäckig – das entspricht nicht mehr der Realität.
Wie haben sich Motive, Stile und Kundschaft verändert? Gibt es einen gesellschaftlichen Wandel?
Ja, absolut. Es gibt heute viele Stilrichtungen – von Fineline über Realistic bis hin zu traditionellen oder minimalistischen Designs. Besonders freut mich, dass die Kundschaft vielfältiger wird. Immer mehr ältere Menschen erfüllen sich den lang gehegten Wunsch nach einem Tattoo. Ich erinnere mich an eine 87-jährige Dame, die sich einen Schmetterling stecken liess. Sie sagte, sie habe nie den Mut gehabt – und es jetzt einfach gemacht. Solche Momente zeigen, wie persönlich Tattoos sein können – unabhängig vom Alter.
Wie beeinflussen Trends wie Handpoke oder Fineline Ihre Arbeit?
Handpoke ist gerade sehr beliebt, aber für mich kein Thema. Ich arbeite lieber mit der Maschine, damit erreiche ich die besten Ergebnisse für meinen Stil. Fineline-Tattoos mache ich gern, sie sind technisch anspruchsvoll und präzise. Allerdings wissen wir noch nicht, wie diese feinen Linien in zehn oder zwanzig Jahren aussehen. Für mich zählt vor allem Qualität – Trends kommen und gehen, ein gutes Tattoo bleibt.
Was ist technisch oder kreativ besonders herausfordernd – und was wird oft unterschätzt?
Finger-Tattoos sind besonders schwierig. Die Haut dort regeneriert schnell, ist ständig in Bewegung und wird viel beansprucht. Deshalb heilen Tattoos an den Fingern oft schlecht, verblassen oder gehen teilweise verloren – selbst nach Nachstechen. Ich kann nie garantieren, dass das Ergebnis dort dauerhaft perfekt bleibt, und frage mich manchmal, ob die Kunden und Kundinnen trotzdem zufrieden sind. Ein weiteres Problem sind sehr kleine, detailreiche Motive. Was auf Papier funktioniert, ist auf der Haut oft nicht machbar. Grössere Tattoos zeigen Details besser und bleiben länger lesbar.
Wie gehen Sie mit Fehlern oder Unzufriedenheit von Kundinnen und Kunden bei Tattoos um?
Klare Kommunikation ist besonders wichtig, vor allem bei Schriftzügen oder Daten. Ich bitte meine Kundinnen und Kunden, den Text vor dem Stechen genau zu prüfen – besonders, wenn er nicht in meiner Muttersprache ist. Ich nehme mir Zeit, alles gemeinsam durchzugehen, um Fehler zu vermeiden. Natürlich arbeite ich sorgfältig, aber manchmal entstehen Fehler durch falsche Angaben. Dann bleibe ich ruhig, und wir finden gemeinsam eine Lösung, um den Fehler zu korrigieren oder anzupassen.