«Wir sind jetzt bereits unterfinanziert»

Geplante Änderungen der Tarifstruktur in der ambulanten Physiotherapie stossen im Säuliamt auf Widerstand

Wer am 17. November einen Physiotherapeuten konsultieren möchte, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit vor verschlossenen Türen stehen. Denn am nächsten Freitag werden Physiotherapeutinnen und -therapeuten aus der gesamten Schweiz nach Bern reisen, um die Petition gegen den geplanten Eingriff in die Tarifstruktur dem Bundesrat zu übergeben. Rund 185000 Unterschriften konnten gesammelt werden — «wir wollen verhindern, dass eine Branche, die ohnehin bereits unterfinanziert ist, noch mehr in die Schieflage gerät», sagt Rhea Ganz, praktizierende Physiotherapeutin aus Bonstetten und ehemalige Präsidentin des Regionalverbandes physio Zürich-Glarus. Sich wehren, ein Zeichen setzen und vor allem die Forderungen laut werden lassen, dass der Bundesrat den Tarifeingriff stoppt und die Verhandlungen mit den Krankenversicherern erneut aufgenommen und eine gemeinsame Lösung gefunden werden kann. Und vor allem aber auch, dass kostendeckende Tarife erarbeitet werden können, sodass der Lohn zum Leben reicht. Mit dem Einreichen der Petition erhofft sich die Branche, dies zu erreichen.

Um die Problematik zu verstehen, bedarf es eines Blickes auf die Hintergründe. Die bestehende Tarifstruktur in der Physiotherapie ist längst veraltet; «eine Anpassung ist zwingend nötig», sagt Benno Stadelmann, Co-Präsident des Regionalverbandes physio Zürich-Glarus. Doch wie Rhea Ganz kritisiert auch er, dass die geplanten Änderungen in die falsche Richtung gehen würden.

Erfolglose Verhandlungen

Bereits 2016 wurde mit den Krankenversicherern über eine revidierte Tarifstruktur verhandelt — ergebnislos. «Wegen der Corona-Pandemie wurden die Gespräche zur Revision der Tarifstruktur mit den Krankenversicherern erst 2021 wieder aufgenommen», so Rhea Ganz. Physioswiss hat sich also seit zwei Jahren bemüht, die Verhandlungen voranzutreiben. Die bundesrätliche Anpassung an die Tarifstruktur soll nun zu einem Zeitpunkt erfolgen, in dem vonseiten Physioswiss hohe finanzielle und personelle Aufwendungen getätigt worden sind, um alle notwendigen und gesetzlich vorgeschriebenen Datengrundlagen für die Verhandlungen bereitzustellen.

Rhea Ganz: «Es ist offensichtlich, dass sich die Krankenversichererverbände in dieser Zeit deshalb obstruktiv verhalten haben, um einen im Raum ­stehenden Tarifeingriff nicht zu gefährden.» Vonseiten santésuisse wird ­bestätigt, dass parallel zum Vernehmlassungsverfahren Gespräche mit den Tarifpartnern geführt würden. Dies passiere sorgfältig und nehme entsprechend Zeit in Anspruch. Nur: Eine Einigung unter sämtlichen Beteiligten blieb bisher aus.

Und genau deswegen musste der Bundesrat von seiner subsidiären Kompetenz Gebrauch machen und eine Anpassung der aktuellen Tarifstruktur vorschlagen. Zwar kann das Bundesamt für Gesundheit BAG keine Stellung nehmen zu einem Dossier, das sich in der Verhandlung befindet, lässt aber verlauten, dass «die Physiotherapeutinnen und -therapeuten die Möglichkeit haben, ihren Standpunkt in der Vernehmlassung zu vertreten». Andererseits könne der Entwurf des Bundesrates als Grundlage für die kommenden Verhandlungen mit den Tarifpartnern dienen.

Doch was ist überhaupt vorgesehen? Unter anderem ist eine neue verkürzte Tarifposition geplant, welche eine Verhandlungsdauer von 15 Minuten festsetzt. Zudem sollen komplexe physiotherapeutische Behandlungen einzeln vom Krankenversicherer geprüft werden, und die Vergütung wird in der ­einen vorgeschlagenen Variante gekürzt. «Durch die reduzierte Zeit und die gekürzten Kostensätze wird es kaum noch möglich sein, qualitativ gute Leistung zu erbringen», sagt Rhea Ganz. Zudem würde Zweiteres zusätzlichen administrativen Aufwand generieren, fügt sie an. Benno Stadelmann pflichtet ihr bei und sagt: «Schon jetzt müssen wir viel Büroarbeit in unserer Freizeit und somit unbezahlt erledigen.» Ganz’ und Stadelmanns Wunsch ist folglich nachvollziehbar: «Es soll eine Zeitkomponente eingeführt werden, sodass sämtliche geleistete administrative Arbeit abgerechnet werden kann.»

Ein Beispiel: Der Physiotherapeut muss mit dem behandelnden Arzt eines Patienten Rücksprache halten. «Der Arzt kann diese Zeit als Taxpunkte verrechnen, ein Physiotherapeut hat diese Möglichkeit nicht», erläutert Stadelmann. Vom BAG wird dies allerdings widerlegt und wie folgt Stellung genommen: «Die Zeit, die für administrative Aufgaben aufgewendet wird, ist im aktuellen Tarif berücksichtigt und wird daher auch vergütet.» Nur — in der bestehenden Tarifstruktur von 1998 ging man von 17 Prozent administrativer Arbeit aus. Laut Studien vom Vorjahr ist diese allerdings mittlerweile auf 40 Prozent angestiegen.

Tarif nicht an Teuerung gekoppelt

«Erschwerend kommt dazu, dass der zu verrechnende Tarif in keiner Weise an die Teuerung gekoppelt ist», fügt Rhea Ganz an und nennt regelmässig anfallende Kosten in Miete, Personal, Material, Versicherungen und Weiterbildungen. «Und die Teuerung in den letzten Jahren war massiv», betont sie. So liegt es auf der Hand, dass der Reallohn in der Physiotherapie gesunken ist. Durchschnittlich 69 Franken pro Stunde wird in der Branche verdient — besagte Nebenkosten nicht abgezogen. Laut dem schweizerischen Verband Physioswiss ist die Versorgung bereits ohne den ­Tarifeingriff akut gefährdet. Und er geht gar einen Schritt weiter und spricht von Berufsaussteigern und Praxisschliessungen.

«Und deshalb müssen wir uns wehren», sagt Rhea Ganz — in der Hoffnung, beim Bundesrat auf Gehör zu stossen. Und vor allem in der Hoffnung, dass es bei der eintägigen Schliessung vieler Physiotherapiepraxen am 17. November bei einer einmaligen Angelegenheit ­bleiben wird.