Zurück im Geschäft
Sandra Steiner geriet vom Wohlstand ans Existenzminimum. Nun ist sie wieder Unternehmerin – und will andere ermutigen

An einem Abend im November 2019 beschliesst Sandra Steiner (45), wieder ihre eigene Chefin zu werden. Für 50 Dollar lässt sie online ein Logo gestalten, setzt mithilfe eines Gratis-Anbieters eine Website auf und schaltet auf der Plattform Ronorp ein kostenloses Inserat für Büro-Dienstleistungen. Es ist nicht so, dass Sandra Steiner partout kein Geld für Werbung ausgeben will. Sie hat schlicht keins. Ihr Konto ist leer.
Zehn Jahre zuvor deutet wenig darauf hin, dass Steiner eines Tages mit Geld des Sozialamts am Existenzminimum leben würde. Gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann führt sie ein Detailhandelsunternehmen – und das ziemlich erfolgreich: Boot auf dem Zürichsee, Seeblick vom Garten, in der Garage mehrere Luxus-Autos. «Wir durften damals ein privilegiertes Leben führen», sagt sie rückblickend.
Zum unternehmerischen Glück, zur richtigen Zeit (vor dem Triumphzug des Online-Handels) am richtigen Ort (im unverwüstlichen Hafen des Luxus-Segments) zu sein, gesellt sich das Können: Beraten, ermutigen, überzeugen: Alles Dinge, die Steiner in persönlichen Verkaufsgesprächen mühelos von der Hand gehen. Die Kundinnen vertrauen ihrem Geschmack. Und kaufen, kaufen, kaufen. Nicht selten fährt das Ehepaar nach dem Wochenende eiligst nach Italien in die Produktionsstätte, um die leer gefegten Regale wieder aufzufüllen.
Die Babypause dauerte zwei Wochen
Der Knick in Sandra Steiners beruflicher Biografie tritt im Jahr 2010 zum Vorschein. Ereignet hat er sich vermutlich bereits 2007, nach der Geburt ihres ersten Kindes. Bis zwei Tage vor dem Termin arbeitet sie noch, als ihr Sohn auf der Welt ist, bleibt sie die ersten vierzehn Tage zu Hause. Dann steht sie wieder im Geschäft, samt Baby. «Es fiel mir damals schwer, mich mit der Mutterrolle zu identifizieren. Ich stand mit beiden Beinen so fest im Berufsleben, dass ich das Gefühl hatte, zu Hause etwas zu verpassen.» Wird sie heute gefragt, was ihr dort womöglich hätte entgehen können, sagt sie: «Nichts.»
So kommt es, dass Sandra Steiner nach der Geburt ihres zweiten Kindes, im Jahr 2010, beruflich definitiv kürzertreten will. Steiner sagt, dieser Wunsch habe in ihrer vorbelasteten Ehe zu starken Spannungen geführt. Weil der Erfolg in den Läden so dicht mit ihrer Präsenz verwoben ist, mündet Steiners Rückzug in existenzielle Fragen, auf die das Paar nach Monaten des Ringens nur noch eine Antwort findet: Getrennte Wege. Sowohl beruflich, als auch privat. Das Geschäft wird verkauft. Sie selbst profitiert davon nicht: Am Unternehmen, das ihr Noch-Ehemann gegründet hatte, ist sie nicht beteiligt.
Zurück auf Feld eins
Nach der Trennung im Jahr 2012 steht Sandra Steiner vor dem Nichts. Der Alltag mit zwei Kleinkindern ist streng, die Teilzeitstelle im kaufmännischen Bereich lässt trotz intensiver Suche auf sich warten, und bis das Gerichtsverfahren und die Geschäftsliquidation abgeschlossen und der Unterhalt geregelt sind, dauert es. Hinzu kommt das emotionale Gepäck, das sie aus der zerbrochenen Beziehung mit sich herumträgt. «Ich wusste nicht mehr, wo mir der Kopf steht», sagt Steiner über diese Zeit.
Es folgen turbulente Jahre: Über längere Zeit ist Sandra Steiner auf Sozialhilfe angewiesen, um sich und die Kinder über Wasser zu halten. Sie erlebt damit, was für viele alleinerziehende Mütter in der Schweiz bis heute ein reales Szenario ist. Sie rutscht in die Armut ab.
Beruflich findet sie im kaufmännischen Bereich zwar wieder Anschluss, wird aber zweimal auf Feld eins zurückgeworfen, weil sie den Job verliert. Das Ganze geht auch gesundheitlich nicht spurlos an ihr vorbei. Erschöpfungsdepression lautet die Diagnose im Jahr 2016. «Meine Familie, meine Rettung!», sagt Sandra Steiner rückblickend. Ihre Eltern unterstützen sie – emotional, und zu besonders prekären Zeiten auch finanziell. Sandra Steiner sagt, es sei ihr schwergefallen, als erwachsene Frau auf das Geld der Eltern angewiesen zu sein. Noch schwerer aber fällt es ihr damals, mit anzusehen, wie viele Sorgen sie sich ihretwegen machen.
Anderen Mut machen
Der Aufschwung gelingt Sandra Steiner am erwähnten Abend im November 2019: Auf ihr Online-Inserat meldet sich am nächsten Tag tatsächlich eine Frau, die Unterstützung im Büro benötigt. Mit ihrer KV-Ausbildung und der Weiterbildung im Bereich Marketing-Kommunikation deckt Steiner das gesuchte Profil ab. Innert kürzester Zeit ist der erste Auftrag an Land gezogen, noch bevor sie als Selbstständigerwerbende mit ihrem Service «Office-Fee» bei der Sozialversicherungsanstalt angemeldet ist. «Ich habe einfach gemacht und innerhalb von 24 Stunden dieses Unternehmen gestartet.» Als im Frühjahr 2020 der Corona-Shutdown Realität wird, gerät Steiner erneut ins Zittern: «Jetzt fällt mir einmal mehr alles zusammen», befürchtet sie damals. Doch ihre Sorgen sind unbegründet. Trotz Pandemie geht es mit dem Auftragsvolumen und dem Umsatz aufwärts. Es läuft so gut, dass sie inzwischen eine Angestellte auf Stundenbasis beschäftigt. Bald soll eine weitere Teilzeitstelle hinzukommen. «Am liebsten möchte ich einer Frau den Wiedereinstieg in den Beruf ermöglichen», sagt Steiner. Sie möchte anderen Mut machen, dass es eine Perspektive gibt.
«Habe ich das Richtige getan?», hatte sie sich in den Jahren nach der Trennung mehr als einmal gefragt. Würde sie heute in ihr altes Leben zurückwollen? Steiner sagt: «Um keinen Preis!»