Abschied nach 36 Jahren

Ein Schlusswort des «Anzeiger»-Chefredaktors, der in den Ruhestand geht

Liebe Leserinnen und Leser, mit der heutigen Freitagausgabe trage ich zum letzten Mal die redaktionelle Verantwortung für diese Zeitung und darf mich in den Ruhestand verabschieden – nach fast 36 Jahren bei Weiss Medien AG, der Herausgeberin des «Anzeigers». Eine so lange Zeit beim gleichen Medium ist heute nicht mehr Usanz – in Zeiten, wo Journalisten in wirtschaftlich zunehmend schwierigem Umfeld in dieser Branche die Seite wechseln und sich ihr Geld als Pressesprecher eines Konzerns, einer öffentlichen Institution, eines Regierungsmitglieds oder in eines Kommunikationsunternehmens verdienen. Dass es in meinem Fall so viele Jahre geworden sind, hängt nicht nur mit der gesundenfinanziellen Basis des Unternehmens zusammen. Lokaljournalismus ist ein faszinierender Bereich, der zwar räumlich begrenzt ist, aber vieles ermöglicht, was in anderen Medien-Sparten kaum möglich, oft undenkbar ist. In erster Linie ist da die Nähe zu den Bewohnerinnen und Bewohnern in Gemeinde und Region zu nennen, der breite und oft tiefe Kontakt zuExponentinnen und Exponenten in Behörden, Politik, Wirtschaft, Kultur, Gewerbe und Sport – die Möglichkeit, sich auf all diesen «Spielfeldern» journalistisch bewegen zu können. Der Lokaljournalist ist Generalist, der – wie in unserem Fall – recherchiert, redigiert, schreibt, fotografiert und auch das Layout selber besorgt. Unmöglich bei grösseren Medien, wo heute der Dirigentenstab im Newsroom geführt wird.

Ja, diese Nähe ist schön, bereichernd, authentisch und facettenreich wie kaum anderswo: Der Lokaljournalist geht am Samstag zur Viehschau und am Sonntag in die Kirche zur Pfarrinstallation. Er ist auf dem Fussballplatz und an der Gemeindeversammlung anzutreffen, am Chränzli, am Konzert, an der Parteiversammlung oder an der Generalversammlung des Gewerbevereins, an der regierungsrätlichen Pressekonferenz in Zürich, wenn dort das Thema auch die Region betrifft. Nirgendwo im Journalismus gibt es mehr Vielfalt, mehr Entfaltungsmöglichkeiten und auch mehr Freiheiten.

Nähe ist gut, hat aber auch Schattenseiten

Aber die viel gelobte Nähe hat natürlich auch ihre Schattenseiten. Bei Streitereien ist dann der Lokaljournalist auch mittendrin, dem Druck der Konfliktparteien ausgesetzt. Das gilt es auszuhalten. Das Handling ist nicht immer einfach, wenn der Journalist Hammer und Amboss zugleich spürt und sich Instrumentalisierungsversuchen widersetzen muss. Schreibt er einen kritischen Kommentar zur Handlungsweise einer Behörde und haut dabei womöglich einen Gemeindepräsidenten in die Pfanne, so hat das ganz andere Auswirkungen als der kritische Leitartikel des NZZ-Chefredaktors zum Gebaren von US-Präsidentschaftsanwärter Donald Trump. Der ruft den Chef des Weltblattes von der Falkenstrasse in Zürich nicht an. Und den kritisierten Gemeindepräsidenten trifft der Lokaljournalist mög-licherweise schon einen Tag später wieder…

Aus meiner Berufszeit haften überwiegend viele positive und ein paar weniger schöne Gegebenheiten in Erinnerung. Der jahrzehntelange, zuweilen verbissen geführte Kampf um die N4 zieht sich wie ein roter Faden durch viele Jahre meiner journalistischen Tätigkeit. Als besondere Ereignisse seien jene erwähnt, die über die Region hinaus interessierten: 1991 erhielt das Säuliamt «auf einen Chlapf» drei Nationalräte und elf Jahre später sogar einen Bundesratskandidaten, dazu brachte sich selbiger als Ständerats- und Regierungsratskandidat in Stellung. Auch das lieferte dem Lokaljournalisten ausreichend Stoff, genauso wie die Wahlkämpfe der 80er- und 90er-Jahre in einzelnen Ämtler Gemeinden, oft mit dem Zweihänder geführt. Es gab die jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen um die Deponie Tambrig in Obfelden und den «Fall Bonstetten», den Zwist auf Uto Kulm, die Schliessung der Kehrichtverbrennungsanlage, den Abbruch der alten katholischen Kirche in Affoltern, bundesrätliche Visiten im Säuliamt oder die Errichtung des Sammlungszentrums des Landesmuseums in Affoltern – und Gerichtsfälle, die für Schlagzeilen sorgten, um nur wenige Beispiele zu nennen. Genauso prägend waren darüber hinaus einige hundert andere Ereignisse, auch wenn es diese nicht in die nationale Presse schafften. Sie gingen einher mit einer gewaltigen Entwicklung der Region, die sich mit der Eröffnung der Autobahn (2009) weiter verstärkt hat. Entwicklungsfragen, unterschiedliche Auffassungen zwischen Kanton und Region, bleiben im Rahmen der Richtplanrevision aktuell und liefern den Journalistinnen und Journalisten weiter Stoff.

Mit Entwicklungsfragen hat sich auch unsere Branche immer wieder beschäftigen müssen, nicht erst seit der digitalen Revolution – eine Herausforderung, die zweifellos viel grösser ist als all die anderen technischen Errungenschaften, die ich in dieser Branche seit 1980 erlebt habe. Auch wenn beim «Anzeiger» die Umstellung vom Bleisatz aus dem mechanischen Zeitalter auf den Fotosatz im Jahr 1985 eine grosse Zäsur darstellte. Und wir damals gleichzeitig mit einem völlig neuen Erscheinungsbild Aufwartung machten.

Von Weiss zu Wanner

Nun gehe ich als einer der letzten «Weissianer» von Bord. Während 123 Jahren gab die Verlegerfamilie Weiss den «Anzeiger» heraus; 1980 wurde ich von Walter Weiss eingestellt, dem Vater des 1994 verstorbenen Oskar Weiss – auch er ein Patron alter Schule und auch er ein herzensguter Mensch, der sich um das Wohl seiner Mitarbeitenden kümmerte. Beide gewährten grosse Freiräume und ermöglichten mir durch die Errichtung eines Budgets die Beschäftigung von freien Mitarbeitenden, die mit ebenso viel Herzblut dabei sind. Ohne deren externes Mitwirken eine Zeitung produzieren – heute unvorstellbar.

Seit 1999 gehört Weiss Medien zur grossen Familie der AZ Medien, Aarau. Verleger Peter Wanner hat den «Anzeiger» so belassen und auf die Errichtung eines sogenannten AZ-Kopfblatts verzichtet – mit gutem Grund. Sämtliche Anzeiger gehören in unserem Mutterhaus nicht zu den Sorgenkindern. Ich bin Peter Wanner und der AZ-Unternehmensleitung in Aarau dankbar, dass diese Freiräume für den Chefredaktor in Affoltern belassen wurden und – so ist anzunehmen – auch belassen werden. Barbara Roth, der Geschäftsführerin der Weiss Medien AG, danke ich ebenso herzlich für die jahrelange, sehr angenehme Zusammenarbeit – genauso wie den Mitarbeitenden im Haus und meiner verständisvollen Frau Bernadette. Meinem Nachfolger Thomas Stöckli und seiner Crew wünsche ich nicht nur gute Stories, sondern auch, dass er die digitalen Herausforderungen meistert. Den Leserinnen und Lesern danke ich für ihr Interesse, das auch immer wieder in den rege genutzten Leserbriefspalten zum Ausdruck kommt.

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