«Spenden sind wichtig, sie können aber auch viel Schaden anrichten»

Interview mit Sonja Dinner, der Präsidentin der in Affoltern ansässigen «The Dear Foundation»

Sonja Dinner hat vor 12 Jahren «The Dear Foundation» gegründet und führt die Organisation nach wirtschaftlichen Massstäben. (Bilder Salomon Schneider)

Sonja Dinner hat vor 12 Jahren «The Dear Foundation» gegründet und führt die Organisation nach wirtschaftlichen Massstäben. (Bilder Salomon Schneider)

Die «Dear Foundation» hat beispielsweise ein Brustkrebs-Aufklärungs-App für analphabetische Frauen erstellt. Die Texte werden allesamt gesprochen.

Die «Dear Foundation» hat beispielsweise ein Brustkrebs-Aufklärungs-App für analphabetische Frauen erstellt. Die Texte werden allesamt gesprochen.

«Anzeiger»: Vergleichbar finanzkräftige Stiftungen wie «The Dear Foundation» unterhalten meistens repräsentative Räumlichkeiten an der Zürcher Bahnhofstrasse oder vergleichbaren Lagen. Weshalb arbeitet «The Dear Foundation» von der Unteren Bahnhofstrasse 3 in Affoltern aus?

Sonja Dinner: Bei der Gründung standen auch solche Räumlichkeiten zur Debatte – diese hätten aber pro Jahr rund 200 000 Franken mehr Mietkosten generiert, was wir als völlig unsinnig betrachten. Wir wollten das Geld bewusst nicht in Repräsentation investieren, sondern in konkrete Projekte. Zudem ist Affoltern hervorragend gelegen, in der Nähe von Zürich und Zug, gut an den Verkehr angebunden und auch der Flughafen Kloten ist nahe. Zudem fühle ich mich im Knonauer Amt seit Jahren zu Hause.

Höre ich in Ihrer Aussage Kritik an Stiftungen mit repräsentativen Büros heraus?

Ja. Und diese Kritik gilt insbesondere «sammelnden Organisationen», das heisst solche, die von Spenden leben. Die repräsentativen Büroräumlichkeiten sind meistens nur die Spitze des Eisberges. In der Spendenindustrie geht es sogar in der kleinen Schweiz um Milliarden. Seit Jahren stagniert jedoch das Spendenaufkommen. Es ist heute mit wenigen Ausnahmen ein reiner Verdrängungsmarkt. Wenn gemeinnützige Stiftungen wachsen wollen, ist es deshalb meist eine reine Umverteilung der Spenden, die mit viel finanziellem Aufwand verbunden ist. Da sich viele sammelnde Organisationen über Spenden-Volumina, Anzahl Projekte und andere Kennzahlen positionieren, müssen diese natürlich jährliche Wachstumsraten als Massstab des Erfolges ausweisen. Für mich wäre hier gelebte Solidarität wichtiger, dass eine Organisation sorgfältig, professionell und auf Kernkompetenzen bedacht, agiert. Ich habe leider das Gefühl, dass bei einigen Organisationen das Generieren von Einnahmen der eigentliche Zweck ist – wenn am Schluss noch etwas für Bedürftige übrig bleibt, geht das aber natürlich auch in Ordnung.

Sie gehen mit einem Teil der gemeinnützigen Organisationen hart ins Gericht. Was, wenn Sie sich irren, durch solche Aussagen das Spendenaufkommen zurückgeht und Bedürftigen deshalb die Unterstützung entzogen wird?

Ja, ich gehe mit den Hilfsorganisationen hart ins Gericht, weil die meisten Organisationen mit fremden Geldern, beziehungsweise Spenden, anders umgehen, als wenn das Geld bei jeder Investition aus dem eigenen Portemonnaie kommen würde. Aber, ich rufe die Menschen unbedingt zur Solidarität auf.

 

«Ich gehe mit Hilfsorganisationen hart ins Gericht»

 

Wie kann oder soll diese Solidarität aussehen?

Ich wünsche mir Solidarität – von allen Menschen, die irgendwie solidarisch sein können. Ob man das nun als religiöse Pflicht, oder aus moralischen Gründen tut, ist schlussendlich nicht entscheidend. Aber echte Solidarität sollte ein menschliches Bedürfnis sein, ohne grosse Werbemassnahmen. Das sollte als Grundsatz das Handeln der Mehrheit der Bevölkerung beeinflussen, in der relativ reichen Schweiz. Ich meine damit, dass ich absolut kein Verständnis dafür habe, wenn Menschen bei uns irgendwelche Ausreden brauchen, um nicht hilfsbereit zu sein. Das kann Nachbarschaftshilfe sein, Unterstützung für ärmere Menschen in der Schweiz, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, wegen schwieriger Lebensumstände, Behinderung oder Alter. Oder es können auch Projekte in der Dritten Welt sein, damit die Menschen nicht zur Migration – beispielsweise nach Europa – gezwungen und entwurzelt werden.

Welche Gedanken können sich solidarische Menschen machen, wenn sie möglichst effektiv spenden wollen?

Die gute Nachricht ist, es gibt ganz tolle Hilfswerke, die hervorragende Arbeit leisten und durch schlanke Strukturen und professionelle Projekte überzeugen. Aber, es ist in der Tat nicht einfach, integre, professionelle Organisationen von Organisationen zu unterscheiden, die primär für ihr eigenes Überleben arbeiten. Denn in der Öffentlichkeit vertreten alle hehre Werte und uneigennützige Motive. Organisationen, die nach der «Mode» gehen und immer dort sind, wo etwas passiert und sofort abziehen, wenn sich der mediale Fokus auf eine neue Katastrophe konzentriert, bringen weder den Betroffenen noch den Spendern etwas – ganz abgesehen von realen Strukturschwächen einiger Organisationen.

Hinzu kommt, dass Entwicklungshilfe keine «exakte Wissenschaft» ist. Bereits die Definition von Projektzielen, Messkriterien und auch moralisch-ethischen Kriterien ist nicht schwarz-weiss und daher sehr anspruchsvoll.

 

«Wir wollen Menschen nicht zu Almosen-Empfängern machen»

 

Wie positioniert sich «The Dear Foundation», um nicht in die erwähnten oder andere Fallen zu tappen?

Da die Stiftung finanziell unabhängig ist und wir nicht auf Spenden angewiesen sind – auch wenn wir uns sehr über Spenden freuen und auch immer wieder grosszügige Spender kennenlernen, vergeben wir unsere Unterstützungen nur an Projekte, die möglichst nachhaltig sind und die Menschen wo auch immer auf der Welt oder in der Schweiz nicht zu Almosen-Empfängern machen, sondern sie müssen immer in einem angemessenen Rahmen Eigenleistung in den Projekten einbringen. Und mit Ausnahme der Projekte für stark behinderte Menschen, werden die von uns unterstützten Menschen irgendwann in die Unabhängigkeit entlassen. Deshalb auch unser Fokus auf Bildung und Berufslehren auf der ganzen Welt.

Weiter geben wir kein Geld für Werbung aus und repräsentieren durch unsere Aktivitäten und selten durch den öffentlichen Auftritt; bis vor drei Jahren hatten wir nicht einmal eine Homepage. Aufgrund der finanziellen Unabhängigkeit und unserer institutionellen Ausrichtung konzentrieren wir uns auf Langzeitprojekte.

«The Dear Foundation» engagiert sich in über 100 Projekten auf drei Kontinenten . Wie verhindern Sie, sich zu verzetteln?

Unser Hauptfokus liegt auf der Unterstützung von Frauen, Kindern und Bildung. Zudem unterstützen wir grundsätzlich nur lokale NGOs und nicht Einzelpersonen. Wer mit einem Projekt an uns herantritt, wird auf Herz und Nieren geprüft und wir haben effektive Kontrollmechanismen aufgebaut, um die Einhaltung der Messkriterien und Partnerschaftsverträge sicherzustellen. Da wir langjährige Projekte unterstützen, entwickeln sich Partnerschaften, die auf Vertrauen und persönlichen Beziehungen beruhen – wir setzen dabei auf Partner, die professionell und schlank arbeiten, und mit Herzblut dabei sind. Integrität, Erfahrung und Vertrauen sind der zentrale Faktor jeglicher Beziehungen – auch für das Verhältnis zwischen uns und unseren rund 200 Projektmitarbeitern weltweit. Dank des Vertrauens zwischen unseren Partnern und uns können wir sehr breit aufgestellt sein, ohne Gefahr zu laufen, die Übersicht zu verlieren.

Auch mit den besten Partnerschaften besteht die Gefahr, dass Hilfsprojekte durch gegenläufige Bewegungen neutralisiert oder sogar instrumentalisiert werden, etwa durch den Staatsapparat, Rebellen oder Separatisten. Was nützt beispielsweise ein Engagement gegen Mädchenbeschneidungen, wenn diese von der Staatsführung als positiv besetzte Tradition gefördert werden?

Während unsere Partner die operative Leitung der Projekte vor Ort wahrnehmen, nutzen wir als Organisation unser weltweites Kontaktnetz, um den Dialog zu fördern und auch Druck zu machen – dies sehen wir als eine unsere Hauptaufgaben und -kompetenzen.

 

«Wir geben kein Geld für Werbung aus»

Wir unterstützen zum Beispiel einige Projekte gegen Genitalverstümmelung von Frauen und zwar auf allen Ebenen, von der individuellen Aufklärung, über den Dialog mit religiösen Führern bis zu Staatspräsidenten. Einer unserer Partner hat beispielsweise in Ägypten die wichtigsten Islamischen Geistlichen zu einem Symposium eingeladen, um über die Beschneidung von Frauen zu debattieren. Es wurde lange gerungen und schlussendlich sind aus dem Treffen heraus eine Erklärung und ein Buch entstanden, die weibliche Genitalverstümmelung verurteilen, – und zwar von muslimischen religiösen Führern.

In zahlreichen Moscheen liegt dieses Buch nun neben dem Koran in den lokalen Sprachen und für Menschen die nicht lesen können, bebildert auf. Die Erklärung hat auch Politikern gezeigt, dass für sie politisch relevante religiöse Autoritäten sich gegen Genitalverstümmelung aussprechen. Es ist aber noch ein langer Weg bis zur Abkehr, denn gerade in ländlichen Gebieten in Afrika ist die Genitalverstümmelung von Frauen noch sehr tief in der Gesellschaft verankert und wird oft sogar von Frauen getragen. Wir werden deshalb auch hier unermüdlich weiterkämpfen.

Interview: Salomon Schneider

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