Öffentliche Vergaben: wenig Kontrolle zur Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben

Auftragnehmer der öffentlichen Hand sind dazu verpflichtet, den Gleichstellungsartikel einzuhalten. Der Bund und die Stadt Zürich haben in einem Teilbereich reagiert und Stichproben eingeführt. Beim Kanton beliess man es bisher bei der Selbstdeklaration. Nun werden im Parlament erneut Forderungen nach mehr Kontrolle laut.

Seit 1981 ist die Gleichstellung der Geschlechter in der Schweizerischen Bundesverfassung verankert. Am 1. Juli 1996 trat das Schweizerische Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (GlG) in Kraft. Dieses verbietet jede Art der Diskriminierung von Frauen oder Männern im Bereich der unselbstständigen Erwerbsarbeit. Der Baufirma Agir AG wurde in den letzten Wochen vorgeworfen, mit ihrer einschlägig geprägten Werbe- und Betriebskultur gegen dieses Gesetz verstossen zu haben. Auch immer wieder im Fokus von geschlechterspezifischer Diskriminierung: die Entlöhnung. Die Gleichstellung von Frau und Mann ist gemäss Gesetz auch bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen zu berücksichtigen. Auf Bundesebene laufen deshalb seit Längerem Bemühungen zur Bekämpfung von Lohnungleichheiten zwischen den Geschlechtern. Seit 2006 führt der Bund bei seinen Auftragnehmern Kontrollen durch. Inzwischen prüft das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) rund 30 Unternehmen mittels Stichproben.

Die Hälfte der kontrolliertenUnternehmen halte die Vorgaben im Beschaffungswesen ein, bei der anderen Hälfte würden gewisse Unregelmässigkeiten festgestellt, erklärt das EBG auf Anfrage. Bei ungefähr 15 Prozent werde eine geschlechtsspezifische Lohndifferenz über der Toleranzschwelle festgestellt. Diese Unternehmen müssten innerhalb von zwölf Monaten Korrekturmassnahmen ergreifen und einen qualifizierten Nachweis über die Einhaltung der Lohngleichheit erbringen, hiess es weiter. Im September 2016 hat Bundesrat Alain Berset zusammen mit kantonalen und kommunalen Regierungsmitgliedern die Charta der Lohngleichheit im öffentlichen Sektor lanciert. Mit der Unterzeichnung bekräftigen Behörden, Lohngleichheit in ihrem Einflussbereich umzusetzen – mitunter im öffentlichen Beschaffungswesen. Dazu wird auch die Einführung von Kontrollmechanismen gefordert. Bis heute haben der Bund, 14 Kantone und 40 Gemeinden unterzeichnet. Darunter auch die Stadt Zürich.

Pilotprojekt in der Stadt Zürich

Im Rahmen des Gleichstellungsplans 2014–2018 läuft zurzeit ein Pilotprojekt zur Überprüfung der Lohngleichheit im Einflussbereich der Stadt Zürich. Im Zentrum stehen dabei der Aufbau und die Einführung eines Lohngleichheitscontrollings bei Unternehmen, die von der Stadt Zürich entweder im Rahmen der öffentlichen Beschaffungen einen Zuschlag erhalten oder mit ihr einen Leistungsvertrag abgeschlossen haben. Wie beim Bund werden Stichproben durchgeführt. Dabei kann die Stadt Zürich auf die Analyse-Instrumente «Logib» und «Argib» des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG zurückgreifen. Ersteres kommt bei Unternehmen ab 50 Mitarbeitenden zum Einsatz, Letzteres befindet sich in der Testphase und wird seit Anfang 2017 für Unternehmen mit weniger als 50 Mitarbeitenden angewendet. Die Evaluationsergebnisse des Pilotprojekts würden bis Ende 2018 vorliegen, so Anja Derungs, Leiterin der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich. «Sie dienen als Grundlage für die Weiterarbeit in diesem Bereich. Längerfristiges Ziel ist die Einführung eines gesamtstädtischen Controllings», erklärt sie.

Kanton Zürich: keine Massnahmen trotz unterzeichneter Lohn-Charta

Auch der Kanton Zürich hat die Lohn-Charta als einer der ersten Kantone unterzeichnet. Unabhängig davon ist auch er gesetzlich verpflichtet, die Gleichbehandlung von Frau und Mann bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen zu gewährleisten.

Anders als in der Charta gefordert, wurden bei den Vergabestellen im Kanton Zürich bis heute jedoch keine Kontrollmechanismen angedacht oder etabliert. Stattdessen hält man weiterhin daran fest, sich die Einhaltung der Gleichstellung von den anbietenden Unternehmen schriftlich bestätigen zu lassen. Das geschieht im Kanton Zürich im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens mittels Selbstdeklaration. Für SP-Kantonsrätin Michèle Dünki-Bättig steht fest: «Es reicht nicht aus, Unternehmen per Selbstdeklaration zur Einhaltung der Vorgaben zu verpflichten. Die Massnahmen, die der Kanton Zürich zur Umsetzung des Gleichstellungsartikels in öffentlichen Ausschreibungen unternimmt, greifen zu wenig weit.» Sie fordert unter anderem, dass auch der Kanton mit Kontrollen gegen die Geschlechterdiskriminierung vorgeht.

Der Regierungsrat argumentiert mit fraglichen Fakten

Bereits im November 2016 hatten Beat Bloch, Michèle Dünki-Bättig und Kathy Steiner eine Anfrage an den Regierungsrat zum Thema Lohngleichheit als Kriterium im öffentlichen Beschaffungswesen eingereicht. Der Regierungsrat hielt in seiner Antwort vom Februar 2017 unter anderem Folgendes fest: Das Tool «Logib» solle aus seiner Sicht nur für Unternehmen ab 100 Mitarbeitenden angewendet werden, da der Aufwand für ein kleineres Unternehmen als unverhältnismässig gross erachtet werde. Weiter hiess es, die Pflicht zur Einreichung des «Logib»-Nachweises stehe dem Gebot der Gleichbehandlung entgegen, da das Instrument für kleinere Betriebe nicht anwendbar sei. Damals war das Modell «Argib» für kleinere Unternehmen beim Bund allerdings bereits als Testversion erhältlich.

Weiter verwies man auf die Stichproben des Bundes und befand, Unternehmen, die sich um Aufträge im Kanton Zürich bewerben, hätten wohl in vielen Fällen bereits eine solche Überprüfung durchgeführt. Die Nachfrage beim EBG zeigt: Diese Wahrscheinlichkeit ist verschwindend klein. Bis Ende Juni 2018 hat der Bund 104 Lohngleichheitskontrollen abgeschlossen – während er Leistungen von mehreren tausend Unternehmen bezieht. Die jährliche Kontrolldichte liegt gemäss EBG bei 0.1 Prozent.

Anfang März 2018 luden Michèle Dünki-Bättig und Kathy Steiner den Regierungsrat mit einem Postulat dazu ein, ebenfalls ein Pilotprojekt zur Sicherstellung der Lohngleichheit zwischen Frau und Mann in Submissionsverfahren durchzuführen. Dieser stellte sich wiederum auf den Standpunkt, es sei weder möglich noch zielführend, im Rahmen des Beschaffungsprozesses regelmässig vertiefte Abklärungen im Bereich der Lohngleichheit durchzuführen. Man verfüge weder über notwendige Kapazitäten noch über das Knowhow. Erneut wurde angeführt, der Anwendung des Instruments «Logib» stehe der Grundsatz der Gleichbehandlung entgegen, weil Unternehmen mit weniger als 50 Mitarbeitenden nicht geprüft werden könnten. Erneut blieb das Instrument «Argib» für Betriebe bis 50 Mitarbeitende unerwähnt. Der Regierungsrat beantragte dem Kantonsrat, das Postulat nicht zu überweisen. Das Geschäft ist derzeit pendent. Für Michèle Dünki-Bättig ist klar: «Der Regierungsrat versucht in Sachen Lohngleichheit bei öffentlichen Vergaben seit Längerem, sich mit verschiedenen Argumenten aus der Verantwortung zu ziehen. Und das trotz unterschriebener Lohn-Charta. Diese Diskrepanz zwischen Worten und Taten ist nicht länger tolerierbar.»

Öffentliche Aufträge für Agir trotz Diskriminierungen

Ende Juni machte der «Anzeiger» die geschlechterdiskriminierende Unternehmenskultur von Agir AG publik. Schlagzeilen machte nicht nur das Mitarbeitenden-Magazin, sondern auch der Werbeauftritt. Dass Agir mit einschlägigen Sujets wirbt, ist bekannt. Bereits 2013 wurde die Firma von der Schweizerischen Lauterkeitskommission für eines ihrer Inserate gerügt und angewiesen, auf diese Art der kommerziellen Kommunikation zu verzichten. Die Agir entfernte das gerügte Sujet – und entwarf neue, in ähnlichem Stil. Trotz dieser Missstände erhielt Agir AG als Subunternehmen weiter Aufträge der öffentlichen Hand. Derzeit ist die Firma beispielsweise als Subunternehmen am Bau der Limmattalbahn beteiligt. Die Baudirektion erklärte auf Anfrage, Sie habe keine Kenntnis über geschlechterdiskriminierende Darstellungen seitens Agir gehabt. Die Frage, ob man die Subunternehmen in der Vergangenheit in irgendeiner Weise auf die Einhaltung des Gleichstellungsartikels kontrolliert habe, verneinte sie. Dafür seien die Auftragnehmer zuständig. Der Kniff: Gemäss Submissionsverordnung ist die Vergabestelle einzig dafür verantwortlich, die Gleichbehandlung von Frau und Mann bei Auftragnehmern und Dritten vertraglich sicherzustellen. Dies geschieht mit Unterzeichnung der Selbstdeklaration.

Auftragnehmerin war vorliegend die Arbeitsgemeinschaft LTB, bestehend aus Walo Bertschinger AG, Kibag Holding AG und Keller+Frei AG Strassenbau. Sie erhielt den Zuschlag für ein Teilprojekt und beauftragte Agir als Subunternehmen. Kurt Glanzmann, Leiter Inland bei Walo Bertschinger, liess ausrichten, die Agir sei einer von vielen Lieferanten der Walo Bertschinger. Man distanziere sich in aller Form von diskriminierendem oder belästigendem Verhalten. Mit der Selbstdeklaration hatte die Arge LTB zugesichert, die Umsetzung des Gleichstellungsartikels zu gewährleisten. Auf die Frage, wie Walo Bertschinger seine Lieferanten bei öffentlichen Aufträgen auf die Einhaltung des Gleichstellungsartikels prüfe, erhielt der «Anzeiger» keine Antwort. Weiter wollte der «Anzeiger» von Walo Bertschinger wissen, ob man bis zur medialen Berichterstattung über Agir keine Probleme darin gesehen habe, die Firma trotz der diskriminierenden Unternehmenskultur als Subunternehmen zu beauftragen. Dazu liess Walo Bertschinger ausrichten, die von Agir ausgeführten Kies- und Betonlieferungen seien im Gegensatz zur Kommunikationsarbeit stets vorbildlich gewesen. Die Baudirektion erklärte auf Anfrage, man habe Agir unter Bekanntgabe der submissionsrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten inzwischen dazu aufgefordert, geschlechterdiskriminierende Darstellungen umgehend zu unterlassen und dies schriftlich zu bestätigen. Agir sei dieser Aufforderung nachgekommen. Damit sei der Fall für die Baudirektion momentan erledigt.

Was Anja Derungs immer wieder erstaunt: «Wenn es um die Nicht- oder Schlechterfüllung eines Auftrags oder um Schwarzarbeit geht, dann ist allen sofort klar, dass Handlungsbedarf besteht.» Sie gibt zu bedenken, ein Zuschlag könne in Anwendung der kantonalen Submissionsverordnung auch dann widerrufen werden, wenn ein Unternehmen die Gleichbehandlung von Frau und Mann erwiesenermassen nicht einhält. Dazu gehöre nicht nur die allfällige Lohnungleichheit, sondern auch die geschlechtsbezogene sexuelle oder sexistische Belästigung, die mit Verletzung der Präventions- und Fürsorgepflichten aus Gleichstellungsgesetz, Obligationenrecht und Arbeitsgesetz einhergeht. Dabei spiele es keine Rolle, wenn ein Subunternehmen sich nicht an die Grundsätze halte, denn das Hauptunternehmen hafte auch für diese. Für Anja Derungs steht fest: «Ein Verstoss gegen den Gleichstellungsgrundsatz ist nicht anders zu behandeln als andere Verstösse.»

Erneute Anfrage an Regierungsrat

Auch für die Mettmenstetter SP-Kantonsrätin Hannah Pfalzgraf ist klar, dass gehandelt werden muss. Für sie erhält die Diskussion zur Umsetzung des Gleichstellungsartikels im Kantonsrat noch nicht den nötigen Stellenwert. Deshalb hat sie zusammen mit ihren Ratskolleginnen Michèle Dünki-Bättig und Kathy Steiner am 9. Juli eine Anfrage an den Regierungsrat eigereicht. Darin wird die Frage aufgeworfen, wie die Baudirektion in Zukunft sicherstellen werde, dass die Anbietenden den Grundsatz der Gleichbehandlung von Frau und Mann erfüllen. Anfang Oktober wird der Regierungsrat darauf eine Antwort geben müssen.

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