«Ich wollte mich bewusst nicht gleich ins nächste Abenteuer stürzen»

Am Wochenende massen sich die besten Sportkletterer der Welt an der WM in Moskau. Nicht mit dabei war Bonstetterin Petra Klingler. Im Interview verrät sie, weshalb und lässt die Erfahrung Olympische Spiele noch einmal Revue passieren.

Petra Klingler will dem Klettersport treu bleiben. (Bild zvg.)
Petra Klingler will dem Klettersport treu bleiben. (Bild zvg.)

«Anzeiger»: Petra Klingler, Sie haben sich gegen einen Start an der WM in Moskau entschieden, weshalb?

Petra Klingler: Weil die Saison sehr anspruchsvoll war. Nach den Olympischen Spielen habe ich gemerkt, dass ich müde bin und die Eindrücke erst verdauen muss. Die Energie war noch nicht wieder da. Und ich will mir Zeit nehmen, um Olympia zu verarbeiten und die eine oder andere Verletzung ausheilen zu lassen.

Haben Sie die Wettkämpfe verfolgt?

Nicht in voller Länge, aber das eine oder andere habe ich am Bildschirm mitverfolgt.

Saisonhighlight waren die Olympischen Spiele – die ersten überhaupt fürs Sportklettern, was hat es Ihnen bedeutet, bei dieser Premiere dabei zu sein?

Es war eine mega Ehre, dabei zu sein und den Sport – und die Schweiz – repräsentieren zu dürfen. Die Olympischen Spiele sind schon eine besondere Bühne.

Worauf lag Ihr Fokus in der Vorbereitung?

Schon vor allem beim Bouldern. Aber sicher auch darauf, überhaupt ­gesund hinzukommen. Es gibt immer wieder Athleten, die den Saisonhöhepunkt wegen Überbelastung verletzt verpassen. Ich habe da eine gute Balance gefunden.

Dann wurden die Spiele um ein Jahr ­verschoben, wie haben Sie dies erlebt?

Das ist schon so lange her (sie lacht). Am Anfang hat es mir den Boden unter den Füssen weggezogen. Zumal noch ungewiss war, ob meine Qualifikation überhaupt bestehen bleibt. Ein, zwei Wochen danach habe ich es ruhiger genommen, die Planung überdacht. Dann habe ich die Verschiebung als Chance betrachtet, nochmals ein Jahr mehr Vorbereitungszeit zu bekommen.

War die Verschiebung im Nachhinein eher ein Vor- oder Nachteil?

Für mich eher ein Nachteil. Es war sehr anstrengend, die Spannung so lange aufrechtzuerhalten. Und ich musste auch darauf achten, mich nicht mit ­Corona zu infizieren. Ein Jahr früher wäre ich sicher frischer gewesen. Aber fit war ich. Und vorbereitet auch.

Wie hat Ihr Alltag in Tokio ausge­sehen?

Eigentlich fast wie zu Hause: Aufstehen, trainieren, mittagessen, trainieren und dazwischen noch in die Physio. Von der Struktur her lief es also gleich weiter, wie vor jedem Wettkampf. Nur mit anderen Wänden, in einem anderen Umfeld.

Im Olympischen Dorf soll ja jeweils auch zwischenmenschlich ganz viel laufen, welche interessanten Begegnungen bleiben in Erinnerung?

Da unser Einsatz so spät dran war, waren viele Athleten schon nicht mehr da. Und jeder ist auf seinen Wettkampf fokussiert. Wir haben am Abend noch trainiert und haben dafür am Morgen ausgeschlafen. So kommt man aneinander vorbei. Ein spezieller Moment war sicher, die Medaillen-Gewinnerinnen im «Village» (dem Olympischen Dorf, Anm. d. Red.) empfangen zu dürfen. Oder ­Mujinga (Sprinterin Mujinga Kambundji, Anm. d. Red.) zu sehen, nach ihrem Lauf. Oder Nicola Spirig (Triathletin) zu treffen. Oder Anouk (Vergé-Dépré, Beachvolleyball) und Elena (Quirici, Karate), mit denen ich essen ging. Für sie war es normal, dort zu sein. Das hat mir geholfen, die Olympiateilnahme nicht zu ­etwas Grösserem zu machen, als es ist.

Wie war die Stimmung im Schweizer Team?

Es war ansteckend, so viele Frauenmedaillen zu sehen. Man freut sich ­extrem füreinander. Alle haben dasselbe Ziel und man mag es jeder und jedem gönnen, die oder der es erreicht.

Und mit den anderen Nationen?

Da hatte ich eher weniger Austausch. Mit den Kletterern natürlich schon, aber auch nicht so intensiv wie sonst, weil halt die Zeit auch stark begrenzt war.

Haben Sie von den anderen Sportwettkämpfen etwas mitbekommen?

Nur im Fernsehen, live gar nichts. Das war nicht erlaubt, und ich hätte auch nicht die Zeit dazu gehabt.

Der Start lief für sie nach Mass: Im Speedklettern haben Sie sogar den Schweizer Rekord gebrochen – warum hat es trotzdem nicht für die Finalqualifikation gereicht?

Ich hatte aufs Bouldern gesetzt, weil das meine stärkste Disziplin ist. Aber die Boulder waren massiv zu schwer. Alle haben 90 Prozent der Zeit auf der Matte gestanden. Das raubt einem die Chance, zu zeigen, was man kann.

Sie haben konstant gute Leistungen ­gezeigt, aber das reicht offenbar nicht, wenn in der Kombinationswertung die Rangpunkte multipliziert werden.

Im Bouldern und Leadklettern habe ich nicht überzeugt. Aber ja, man muss in einer Disziplin top sein, um ganz nach vorne zu kommen. Überall gut zu sein, das reicht nicht.

Hat sich das Format bewährt?

Wir hätten natürlich alle gerne drei Einzeldisziplinen. Aber das Format ist cool, auch zum Trainieren. Es verlangt vom Routenbau allerdings hohe Qualität. Dann kann es sehr spannend sein, auch wenn es in meinen Augen zu lange dauert. Aber die Entwicklung läuft ­bereits weiter.

In welche Richtung?

Speed soll als Einzeldisziplin ausgetragen werden, Lead und Boulder in Kombination.

Für Sie persönlich ist das nicht unbedingt besser, oder?

Es ist einfach anders. Und es geht in die richtige Richtung. Ich hoffe, bis LA (Los Angeles, Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 2028, Anm. d. Red.) haben wir drei Einzeldisziplinen.

Wie haben Sie sich unmittelbar nach den Wettkämpfen gefühlt?

Da war eine riesige Enttäuschung. Die Spannung, die auch Energie gegeben hat, war plötzlich weg. Und da war auch eine Erleichterung: Endlich hat man die Antwort auf die Frage, wie es wohl rauskommt. Man hat es hinter sich. Und bei aller Enttäuschung ist man stolz, dabei gewesen zu sein. Also ein richtiger Cocktail an Emotionen.

Man liest auch immer wieder von Post-Olympia-Depressionen.

Dass man in eine solche Depression fallen kann, kann ich mir vorstellen. Man hat extrem viel investiert, über Jahre etwas zur Perfektion getrieben und plötzlich fällt der ganze Alltag weg, man hat kein Ziel mehr. Am Anfang habe ich es genossen, einfach mal nichts zu tun. Aber als Athletin brauche ich einen ­gewissen Stress und der fehlt in diesem Moment dann. Viele haben mich gefragt: «Hörst du auf?» oder «Wie geht es weiter?» Dabei hatte ich mich noch gar nicht damit befasst.

Sie gönnen sich ja nun bewusst eine Pause. Was sind die nächsten Ziele und wie sieht Ihr Planungshorizont aus?

Am einfachsten wäre es gewesen, mit Vollgas weiterzutrainieren auf die WM hin. Aber ich wollte mich bewusst nicht gleich ins nächste Abenteuer stürzen, mir stattdessen Zeit nehmen, mir meine eigenen Gedanken zu machen und mir das nicht von jemandem abnehmen zu lassen. Ich bin überzeugt: Was man nicht richtig verarbeitet, das kommt später auf einen zurück. In dieser Zeit bin ich froh, dass ich meinen Job habe. Der gibt mir das Gefühl, gebraucht zu werden. Und er gibt mir Struktur und Ziele. Das würde ich auch jedem empfehlen, nur schon wegen des anderen Umfelds, des Teams.

Welcher Arbeit gehen Sie nach?

Ich bin bei der Swiss im Marketing, Abteilung Events und Sponsoring. Da kann ich unter anderem kleine Anlässe organisieren. Sehr spannend ist es, dass ich in viele Projekte reinsehe und mithelfen kann. Wir sind Partner der Zürich Film Festivals und haben als ­solcher Tickets verlost. Und wir haben als Partner-Airline von Swiss Olympic und Swiss Paralympics Athleten ans Ziel gebracht und versuchen, ihnen den Alltag zu erleichtern. Für uns macht das auch jemand und manchmal vergisst man, wie viele Menschen einem das ­Leben einfacher machen. Das hat bei mir Dankbarkeit ausgelöst.

Und wo stehen Sie im Prozess der Neuorientierung?

Ich weiss, dass ich noch nicht aufhöre. Ob ich nochmals einen Olympia-Zyklus anhänge, das weiss ich noch nicht, aber an der Heim-WM 2023 in Bern würde ich schon gerne mitmachen. Jetzt geht es aber erst mal zurück ins Training und da wird sich dann zeigen, ob die Motivation noch da ist – ich glaube schon (sie lacht). Ich darf nicht vergessen, was ich alles erleben durfte. Das ist zehnmal wichtiger als eine Medaille – und bleibt auch länger.

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