«Dann gebe ich mir ein, zwei Ohrfeigen»

Adrian Brennwald absolviert Ultra-Trail-Rennen. Oftmals mit Blasen an den Füssen, Krämpfen in den Muskeln und Zweifeln im Kopf. Trotzdem rennt er weiter. Wie macht er das? Ein Gespräch über Willensstärke.

Während mancher Ultra-Trail-Rennen ist Adrian Brennwald bis zu 30 Stunden nonstop auf den Beinen. <em>(Bild zvg.)</em>
Während mancher Ultra-Trail-Rennen ist Adrian Brennwald bis zu 30 Stunden nonstop auf den Beinen. <em>(Bild zvg.)</em>

«Anzeiger»: Haben Sie heute schon Sport gemacht?

Adrian Brennwald: Ja, über den Mittag war ich eine Stunde rennen.

Entspricht das einem normalen Tagespensum?

Das variiert, je nach Tag. Ich gehe zwei- bis dreimal pro Woche morgens vor der Arbeit schwimmen, ein bis zwei Mal über den Mittag rennen. Abends oder an meinen beiden freien Nachmittagen kommt das Velofahren hinzu, und ansonsten mache ich Übungen zur Rumpfstabilisation, Muskellockerung oder Dehnung. Umso älter ich werde, desto aufwändiger wird das Training.

Wie zeigt sich das?

In den Dreissigern, als ich noch an Ultra-Triathlons teilnahm, bin ich an manchen Tagen fünf Kilometer geschwommen, 230 Kilometer Velogefahren und dann noch 20 Kilometer gerannt – und das auch mal zwei Tage hintereinander. Solche Trainingseinheiten liegen heute nicht mehr drin. Seit drei, vier Jahren braucht mein Körper mehr Erholung. Ausserdem erlebe ich es in den letzten Monaten öfter, dass ich nach Hause komme, mich hinsetze und am liebsten gar nicht mehr aufstehen würde.

Und dann? Fällt das Training auch mal aus?

Eher mal als noch vor zwei, drei Jahren. Heute mache ich mindestens einen Tag Pause pro Woche. Früher hätte es das nicht gegeben.

Wie motivieren Sie sich an den anderen Tagen?

Das Training macht mir ja normalerweise viel Spass. Wenn mal die Motivation fehlt, denke ich an mein Ziel, das nächste Rennen. Ausserdem trainiere ich nun häufiger am Morgen oder über den Mittag, um mich am Abend, wenn ich müde bin, nicht aufraffen zu müssen.

Ist Ihr Körper mehr Komplize oder Gegner?

Im Wettkampf kann ich auf ihn zählen, aber im Training ist er manchmal ein Gegner. Als ich jünger war, rannte ich einfach los, nun muss ich mehr auf mich achtgeben. An manchen Tagen scheinen die Beine schwer, ich fühle mich müde, aber sobald ich losrenne, wird es besser.

Wie erklären Sie sich das?

Es scheint mir, als gaukle der Kopf manchmal vor, der Körper brauche mehr Erholung, als Ausrede, um nicht zu trainieren.

Sie versuchen, sich selbst zu übertölpeln?

Ja, auch. Aber manchmal ist es schwierig zu erkennen, ob ich mich bloss müde fühle, weil ich keine Lust habe, oder ob mein Körper tatsächlich Erholung braucht.

Oft entscheiden sich Wettkämpfe nicht in den Beinen, sondern im Kopf. Wie trainieren Sie Ihre mentale Stärke?

Gezieltes Mentaltraining mache ich nicht. Nur früher, als ich noch an Ultra-Triathlons gestartet bin, trainierte ich die Disziplinen direkt hintereinander, ich fuhr also erst Velo und ging anschliessend rennen, dabei stellte ich mir vor, im Wettkampf zu sein.

Manche Ultra-Trail-Rennen dauern bis zu 30 Stunden. Woran denken Sie während des Wettkampfs?

An allen möglichen Blödsinn (lacht). Was mache ich nach dem Zieleinlauf? Was esse ich als Erstes? Was mache ich danach? Das Problem ist: Sobald ich ans Ziel denke, schliesse ich mit dem Wettkampf gewissermassen ab. Deshalb versuche ich, diese Gedanken auszublenden und an den Wettkampf zu denken.

Das lastet die Gedankenwelt kaum während Stunden aus.

Man hat schon ziemlich viel Zeit zum Nachdenken. Aber man kann sich gut ablenken, indem man das Höhenprofil und die Route studiert, indem man schaut, wo sich die nächsten Verpflegungsposten befinden oder indem man sich überlegt, was man an den Posten isst und an Verpflegung für die nächsten Kilometer mitnimmt. Es kann auch gefährlich werden, wenn man zu viel studiert, gerade in der Nacht. Die Route führt oft irgendwo durch das Hinterland, teilweise gibt es keine offiziellen Wege, umso genauer muss man schauen, wo die Markierungen sind.

Denken Sie manchmal ans Aufgeben?

Klar, in jedem Rennen! Mindestens zehnmal würde ich am liebsten auf der Stelle alles hinschmeissen. Auch schon dachte ich unterwegs: «Wenn jetzt ein Hund käme und mich beissen würde, hätte ich einen Grund, um aufzugeben.» Früher beim Ultra-Triathlon habe ich mir manchmal einen platten Reifen gewünscht, um nicht mehr weiterfahren zu müssen.

Sie suchen nach Gründen, um hinzuschmeissen?

Ja. Das Problem ist, es gibt immer 100 Gründe, um sofort aufzuhören. Aber nur einen, um weiterzumachen.

Welchen?

Um es ins Ziel zu schaffen.

Wie schaffen Sie es, trotzdem weiterzumachen?

Ich weiss, dass es bald wieder aufwärts geht und denke an das intensive Training oder an meine Betreuungspersonen, die extra meinetwegen mitgereist sind. Ausserdem finden diese Ultra-Trail-Rennen oftmals in unwegsamem Gelände statt. Es ist gar nicht möglich, um 2 Uhr morgens einfach aufzuhören. Man muss es ja trotzdem zum nächsten Verpflegungsposten schaffen, und bis man dort ist, gehts meist wieder besser.

Was unternehmen Sie gegen die Müdigkeit?

Ab und zu trinke ich Koffein-Shots, normalerweise ist die Müdigkeit bei Ultra-Trail-Läufen aber kein grosses Problem. Durch den Lichtkegel der Stirnlampe wechsle ich in eine Art Tunnelblick. Und wenn ich trotzdem müde werde, gebe ich mir auch mal eine Ohrfeige oder zwei. Besser, als dass ich stürze.

Welches Körperteil schmerzt während des Laufs am meisten?

Die grössten Probleme macht der Magen. Wenn es übel kommt, führt das bis zum Erbrechen. Deshalb habe ich meistens einen halben Bouillon-Würfel dabei, den ich anknabbere und mit Wasser zu mir nehme, um meinen Magen zu beruhigen.

Was ist mit den Beinen, den Füssen?

Manchmal tut der ganze Körper weh, dann versuche ich, in mich reinzuhören und den Schmerz zu lokalisieren. Wie gehts den Füssen, den Beinen, den Armen? Meist relativiert sich dann alles. Manchmal sind die Schmerzen allerdings wirklich stark. In Slowenien waren die Krämpfe derart akut, dass ich kaum laufen konnte. Erst wollte ich aufgeben, hatte aber glücklicherweise Salztabletten dabei, nahm die dreifache Dosis und konnte weiterrennen. Solange der Schmerz aus der Anstrengung entsteht, ist alles okay. Wenn er aber aus einer Über- belastung oder einer Verletzung entsteht, werde ich vorsichtig.

Schmerzen überall! Wozu die ganzen Qualen?

Es macht mir Spass. Ich freue mich immer riesig auf diese Wettkämpfe, auch auf den nächsten in Italien, obwohl ich weiss, dass ich mich während dem Rennen wieder verteufeln werde. Es ist eine Hassliebe.

Haben Sie Ihrem Körper gegenüber manchmal ein schlechtes Gewissen?

Nein, eigentlich nicht. Klar, das Rennen verschleisst, deshalb trainiere ich meine Kondition mit Schwimm- und Velotraining, um die Gelenke zu schonen. Der Wettkampf ist nicht so gesund, das tägliche Training hingegen schon.

Irgendwann sind die Torturen überstanden. Was passiert nach dem Zieleinlauf?

Dann muss ich mich erstmal hinsetzen. Danach esse ich als Erstes einen Salat. Darauf habe ich komischerweise nach jedem Lauf am meisten Lust. Und dann esse ich Burger, Pommes oder was immer ich möchte.

Wie strikt achten Sie vor den Wettkämpfen auf Ihre Ernährung?

Ich nehme es nicht so streng. Es kam schon vor, dass ich am Abend vor einem Rennen eingeladen war und Fleischkäse und Kartoffelsalat ass.

Liegt Ihnen das später nicht auf?

Solange es nicht gerade ein Raclette ist (lacht). Man sollte vor dem Wettkampf Kohlenhydrate und Eiweiss zu sich nehmen. Auch während des Rennens wird an den Verpflegungsposten Brot, Käse oder Fleisch angeboten. Alleine mit Flüssignahrung steht man das Rennen nicht durch.

Wie halten Sie es mit dem Alkohol?

Auch da war ich früher strikter. Heute gönne ich mir mal einen Apéro oder ein Glas Wein. Ich bin im Sport viel disziplinierter als bei der Ernährung, speziell bei Süssigkeiten. Ich nehme mir vor, nur ein Stück Schokolade zu essen, denke dann ‹nur noch eins›, und am Schluss ist die halbe Tafel weg.

Sie können Ihre Willensstärke aus dem Sport nicht in andere Lebensbereiche übertragen?

Nein. Beim Essen funktioniert es leider nicht. Aber vielleicht ist das auch gut so.

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