«Texas Hold’em ist kein Kartenspiel»

Seit 15 Jahren organisiert Claudia Chinello Poker-Events in der ganzen Schweiz. Sie sagt, dabei lerne man sein Gegenüber ­wirklich kennen – kaum je sei der Mensch so ehrlich, wie wenn er spiele. Wird sie mich richtig einschätzen können? Ein Test.

Claudia Chinello ist überzeugt, dass sich Pokerstrategien und Spielphilosophien auf das Leben übertragen lassen. (Bild zvg.)
Claudia Chinello ist überzeugt, dass sich Pokerstrategien und Spielphilosophien auf das Leben übertragen lassen. (Bild zvg.)

Als Claudia Chinello ihre erste Firma gründete, war sie 21. Die junge Betriebsökonomin suchte nach einem Nebenjob, sah in der Zeitung eine Anzeige als Croupier und wusste: "Das will ich machen!" Der Lohn war wenig ­attraktiv, sie machte die Ausbildung trotzdem. Ums Geld, sagt sie, sei es ihr schon damals nicht gegangen. «Poker hat mich fasziniert. Man spielt nicht gegen die Bank, sondern gegen den Menschen.» Später wurde sie Profi, spielte online und an Turnieren. 2007 hörte sie auf, weil sie damit zwar Geld verdiente, aber keinen «Wert» schuf. Sie ist überzeugt: Strategien vom Pokertisch lassen sich auf das Geschäfts- oder Privatleben übertragen. Seit 2005 veranstaltet sie mit der «Poker Academy» Spielevents für Private und Firmen. Im Spiel, sagt sie, lerne man die Menschen innert kürzester Zeit kennen. Wie viel wird sie in einer Stunde «Texas Hold’em» über mich herausfinden? Ich treffe die 41-Jährige in ihrer Wohnung in Stallikon. Wir setzen uns an den Tisch, vor uns ein Pokerteppich und die Spielkarten.

Sie sagen, im Spiel lerne man einen ­Menschen innerhalb einer Stunde besser kennen als in einem Jahr durch Ge­spräche. Wie ist das möglich?

Man sagt, Betrunkene und Kinder seien die ehrlichsten Menschen. Ich würde die Kategorie der Spieler hinzufügen.

Weshalb?

Während wir spielen, denken wir weniger und handeln mehr. Wir tun etwas, das uns an unsere Kindheit erinnert, sind mehr uns selbst und lassen eine Maske fallen, die wir uns im Lauf des Lebens zugelegt haben.

Die nächste Stunde dürfte also aufschlussreich für mich werden.

Wir werden sehen.

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«Haben Sie Pokererfahrung?», fragt sie mich, nachdem sie die Karten verteilt hat. «Black Jack und Roulette». «Was ist mit Texas Hold’em?». Ich verneine. Sie macht mich mit den Karten vertraut – es sind 52 in vier Farben. Der tiefste Wert ist die zwei, der höchste das Ass. Sie erklärt mir den Spielverlauf: Zwei Karten hält jede Spielerin in der Hand, in vier Spielrunden werden in der Tischmitte fünf Karten aufgedeckt, in jeder Runde kann Wetteinsatz geboten oder ausgestiegen werden. Wer nach der vierten Runde aus allen sieben Karten das beste 5-Kartenblatt hat, gewinnt. Was Claudia Chinello nicht weiss: Ich spiele ab und zu «Texas Hold’em», bin also keine Anfängerin. Aber das soll die Profi-Spielerin selbst herausfinden.

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Wir kennen uns seit zirka 20 Minuten. Ihre erste Einschätzung über mich?

Am Telefon habe ich Sie als zielstrebig erlebt, der Termin war schnell vereinbart. Ihr Händedruck an der Türe war eher zurückhaltend, in Ihrem Sessel jedoch wirkten Sie von Beginn weg entspannt. Sie unterbrechen mich kaum, lassen mich ausreden und ich habe den Eindruck, dass Sie sich für mich interessieren. Ausserdem lassen Sie sich schnell aufs Spiel ein. Und: Sie funktionieren nach Regeln.

Nach Regeln?

Ja. Sie wollen Regeln einhalten.

Wie kommen Sie darauf?

Weil Sie nach den Regeln unseres Aufwärmspiels gefragt haben. Bloss: Es gibt keine. Wir machen die Regeln selbst. Ich behaupte: Sie sind eine ­Person, die zuerst verstehen will, wie etwas funktioniert, bevor sie handelt.

Ihre Einschätzung ist nicht schlecht. ­Erklären Sie mir den Mechanismus des Spiels: Was muss man beim Pokern verstanden haben?

Dass es kein Kartenspiel ist.

Kein Kartenspiel?

Nein. Die Karten sind nur ein Hilfsmittel. In erster Linie ist «Texas Hold’em» ein Geld- und Menschenspiel. Karten, Regeln und Spielablauf kennt man relativ schnell. Aber dann geht es darum zu wissen: Wie tickt mein Gegenüber und gegen wen setze ich welche Beträge, um zu gewinnen?

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Erste Runde. Claudia Chinello verteilt die Karten und die Spielchips. «Es ist spannend, wie Menschen ihre Chips sortieren». Bei Werbern und Kreativen lägen diese oftmals wild durcheinander, Buchhalter würden sie nach Wert und Farben ordnen. Dann sind unsere Chips-Einsätze gefragt. Chinello setzt 25, ich 50, als sie auf 200 erhöht, steige ich aus. Sie gewinnt.

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Die erste Runde ist vorbei. Was haben Sie über mich erfahren?

Dass Sie offenbar etwas gelernt ­haben.

Was denn?

Dass man nicht mit schlechten Karten spielt. (lacht.)

Und weiter?

Dass Sie sich nicht auf jedes Spiel einlassen. Ich habe den Einsatz erhöht und Ihnen dadurch vermittelt, gute Karten zu haben, vielleicht sogar bessere als Sie. Und Sie haben mir geglaubt.

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Zweite Runde. Ich setze 25, Claudia Chinello 50. Ich erhöhe auf 100, sie auf 250. Ich ziehe mit. Einen Durchgang erhöhen wir beide nicht, Später legt sie nochmals 350 drauf, wieder ziehe ich mit. Am Schluss hat sie zwei Paare, ich ein Full-House. Ich gewinne. Als ich die gewonnenen Chips auftürme, sagt sie: «Sie sind eine ordentliche Person. ­Bestimmt ist auch Ihr Arbeitsplatz aufgeräumt.» Ich verneine.

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Wie gefällt Ihnen mein Pokerface?

Naja, Sie machen den typischen Anfängerfehler.

Welchen?

Man sieht Ihnen an, wenn Sie ein gutes Blatt haben: dann blinzeln Sie, Ihre Gesichtsmuskulatur entspannt sich. Haben Sie hingegen ein schlechtes Blatt, dann starren Sie. Wenn Sie die Karten erhalten, sollten Sie sie nicht sofort aufdecken – sondern Ihr Gegenüber beobachten.

Was bringt einem ein Pokerface im ­echten Leben?

In Verhandlungen ist es gut, seinem Gegenüber nicht alles zu verraten und zu wissen, wie man taktisch am besten vorgeht.

Man soll seine Gefühle nicht offenbaren?

Nur so weit wie nötig, um das Ziel zu erreichen.

Menschen sollen lernen, dass sie im Leben erfolgreicher sind, wenn sie keine Emotionen zeigen. Halten Sie das für erstrebenswert?

Generell nicht. Doch in manchen Situationen ist es hilfreich, ruhig zu bleiben. Stellen Sie sich vor, sie sind in einer Sitzung, bringen eine Idee ein, niemand reagiert. Später bringt Ihr Kollege dieselbe Idee ein, alle sind begeistert. In einer solchen Situation kann Ihnen Ihr Pokerface helfen.

Innerlich koche ich, äusserlich lächle ich. Das ist doch nicht authentisch!

Ihr Gesichtsausdruck ist ja nur eine Etappe auf dem Weg zum Ziel. Sie bleiben ruhig, um dann zu handeln: Sie sagen Ihrem Kollegen: «Danke, dass du meine Idee nochmals aufbringst.» Sie übernehmen, und schon sind Sie wieder im Spiel.

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Dritte Runde. Wieder sind unsere Einsätze gefragt, und Claudia Chinello sagt: «Sie haben noch nie falsch gesetzt. Für Anfänger ist das unüblich.» Ich fühle mich ertappt, sage nichts. Am Schluss steige ich aus. Sie gewinnt.

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Drei Runden sind gespielt. Wie schätzen Sie meinen Umgang mit Geld ein?

Soeben haben Sie trotz schlechtem Blatt nochmals 200 gesetzt. Sie sind offenbar bereit, im Leben Risiken einzugehen. Zwar wissen Sie genau, wofür Sie Geld ausgeben, doch sie geben es auch mal unnötig aus oder auch dann, wenn ungewiss ist, ob es sich ausbezahlen wird. Eine sparsame Person hätte die 200 nicht gesetzt. Sie wäre ausgestiegen.

Auf Ihrer Website schreiben Sie, pokern erfordere ein langfristiges Investitionsdenken.

Genau. Die Spieler müssen wissen, wie sie ihr Geld langfristig einteilen, um am Schluss zu gewinnen.

Man könnte auch sagen, pokern lehre den leichtsinnigen Umgang mit Geld.

Das glaube ich nicht. Auch wenn man mit Chips spielt, ist es letztlich das eigene Geld. Das zu verlieren, tut weh.

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Wir spielen eine letzte Runde, dann brechen wir ab.

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Eine Stunde ist um, das Spiel ist vorbei. Wer bin ich?

Sie sind eine Person, die viel überlegt, bevor sie handelt. Sie lassen sich nicht leichtfertig auf etwas ein, sind aber trotzdem mutig, Risiken einzugehen – obwohl ich nicht sicher bin, ob das wirklich Ihr Naturell ist. Ich habe das Gefühl, Sie sind eine sanfte Person, kein «Polteri». Und: Ihre rasche Auffassungsgabe hat mich verblüfft!

Hat Sie das nicht eher irritiert?

Ihre schnelle Auffassungsgabe? Ich habe mir vorhin überlegt…

…Was?

Naja… Ob Sie nur so tun, als hätten Sie keine Ahnung von Pokern.

Ich habe tatsächlich nicht zum ersten Mal gespielt.

Also doch!

Ich hatte den Eindruck, Sie ahnen etwas.

Ja, ich habe mehrmals gestutzt, aber dann habe ich die Zweifel wieder verworfen. Ich ging nicht davon aus, dass Sie mich täuschen würden.

Sind Sie jetzt schockiert?

Nein. Aber es ärgert mich. Sie haben geblufft, und Sie haben mich voll erwischt.

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