Die Berner waren schneller als die Zürcher
Serie «Verkehrskreisel im Säuliamt», Teil 7: Neue historische Fakten zum ersten Verkehrskreisel der Schweiz

Nein, die Schweizer haben den Verkehrskreisel nicht erfunden. Das «Kreisel-Zeitalter» begann in der Schweiz sogar vergleichsweise spät, Mitte der 80er-Jahre. Doch der Schweizer Urkreisel ist viel älter. In verschiedenen Medienberichten der letzten Jahre war immer der Kreisel in Zollikon mit Jahrgang 1935 als der älteste bezeichnet worden. Doch das ist wohl falsch. Nach Angaben des Berner «Kreiseljägers» Bruno Ritschard ist ein Kreisel in Thun etwas früher entstanden. Und aufgrund von Recherchen in Zusammenhang mit diesem Artikel kann das Entstehungsdatum des Thuner Kreisels jetzt sogar noch weiter zurückdatiert werden als bisher bekannt – ins Jahr 1929.
Forscht man nach dem weltweit ersten Verkehrskreisel, stösst man auf widersprüchliche Angaben. Mal wird als Urkreisel der 1904 in New York errichtete Columbus Circle genannt, mal der 1899 in Görlitz (D) errichtete Brautwiesenplatz. Allerdings wurde das Görlitzer Rasenrondell erst 1930 offiziell als Kreisverkehr ausgebaut. Je nach Interpretation gilt daher als erster europäischer Kreisel der 1907 gebaute Kreisverkehr um den Arc de Triomphe in Paris. Zwölf Strassen gehen von dem offiziell Place Charles de Gaulle genannten Rund ab; viele Pariserinnen und Pariser nennen ihn hingegen immer noch Place de l’Étoile, so wurde er bis 1970 genannt.
Nicht Zollikon, sondern Thun
Die Schweiz reihte sich verkehrspolitisch erst viele Jahre später in den Kreisverkehr ein. Und beliess es für viele Jahre bei wenigen Ausnahmen. Lange Zeit wurde der 1935 eingeweihte Dufourplatz-Kreisel an der «Zürcher Goldküste», in Zollikon, als wohl ältester Schweizer Verkehrskreisel bezeichnet. Das sieht der Berner Bruno Ritschard anders. Er verfügt über die schweizweit wohl umfassendste Dokumentation der mittlerweile auf rund 3500 geschätzten Kreisel im Land.
Gemäss seinen Forschungen liegt der Schweizer Urkreisel in Thun, es ist der Maulbeerplatz-Kreisel, was Ritschard mit einem Foto aus dem Thuner Stadtarchiv belegen kann, welchem er das Entstehungsjahr 1932 zuschreibt. Auf dem Foto ist der Kreisel nur teilweise sichtbar und nebensächlich, eigentliches Motiv ist der damalige Neubau der Spar- und Leihkasse Thun. (Das ist, notabene, jene Bank, die 1991 pleiteging und damals weltweit für Schlagzeilen sorgte und das Vertrauen vieler Schweizerinnen und Schweizer ins eigene Bankensystem erschütterte. Unvergessen sind die Bilder von langen Schlangen von Sparern und Kleinanlegern, die damals vor der verschlossenen Bank standen und hofften, noch etwas von ihren Ersparnissen retten zu können.)
Erste Erwähnung 1929
Während die Thuner Bank längst Geschichte ist, gibt es den Kreisel vor dem ehemaligen Bankgebäude immer noch. Und er ist sogar noch älter als von Ritschard angenommen. Aufgrund einer Anfrage in Zusammenhang mit diesem Artikel stiess das Stadtarchiv Thun auf Dokumente und Fotos, die den Maulbeerplatz-Kreisel (manchmal auch Maulbeer-Kreisel genannt) bis ins Jahr 1929 zurückverfolgen lassen. So berichtet das «Oberländer Tagblatt» vom 1. Oktober 1929, dass der Maulbeerbaumplatz «nun eine bedeutend größere Verkehrsinsel» erhalten habe und «seit gestern abend mit zwei Lichtsignalen versehen ist. Nach der Verkehrsvorschrift haben nun alle Gefährte rechts um diese Insel herum den Weg ihrer Richtung zu suchen. Diese Lichtsignale sind eine ganz neue Einrichtung und sozusagen in Thun allererst eingeführt worden.»
Zwei Tage später, 3. Oktober 1929, legte das «Oberländer Tagblatt» mit einem Lob an die Behörden nach. So belege die Errichtung von Verkehrsinseln auf dem Maulbeerbaumplatz, «dass den Behörden von Thun daran gelegen ist, die Verkehrsabwicklung nach allen Richtungen hin zu fördern und zu verbessern».
Und weiter: «Dieser Platz, geschaffen durch den neuen Bahnhof, auf welchen die Hauptstraße ins Berner Oberland, die Frutigenstrasse, die Bahnhofstrasse, die Aarenstrasse und die Schulhausstrasse einmünden, ist zu einem bedeutenden Verkehrszentrum geworden, das einem völlig grossstädtisch anmutet und die Verkehrsunfälle mehrten sich in letzter Zeit in erschreckendem Masse.» Die schweizweit völlig neue Verkehrssituation schien allerdings manche Verkehrsteilnehmer zu überfordern. So hätten die «Polizisten ordentlich Mühe, die Fahrzeuglenker in die ihnen gewiesenen Bahnen zu weisen», schreibt der Berichterstatter in besagtem Zeitungsartikel.
Nur wenige Monate zuvor, am 29. Juni 1929, hatte laut Thuner Stadtarchiv die zuständige Polizeiabteilung eine sofortige Einführung einer Schutzinsel mit Verkehrsteiler und Rechtsverkehr für den Platz verlangt – und eine Umbenennung von Ringplatz in Maulbeerplatz.
Und ein paar Monate später, Ende 1929, beantragte die Polizeiabteilung, wiederum gemäss Recherchen des Stadtarchivs, das Anbringen eines Verkehrssignals, welches den Verkehr um die Schutzinsel herumleiten soll.
Ähnlichkeit mit «Affenschwanz»
Mutmasslich resultierte aus der Verkehrssignal-Anfrage das auf einigen Fotos aus dieser Zeit zu erkennende Schild, das einen im Gegenuhrzeigersinn spiralförmig aus der Mitte heraus führenden Pfeil zeigt. Bruno Ritschard weist in diesem Zusammenhang auf die Ähnlichkeit des Zeichens mit dem Jahrzehnte später eingeführten At-Zeichen (@) im elektronischen Mailverkehr hin. Dass das umgangssprachlich auch «Affenschwanz» genannte Zeichen auf das Thuner Verkehrszeichen zurückzuführen ist, gehört allerdings ins Reich der Spekulation.
Fakt ist, im Juni 1930 beschlossen die zuständigen politischen Stellen, die damalige Schutzinsel-Anlage definitiv auszugestalten. Womit die Berner in Sachen Verkehrskreisel den Zürchern definitiv ein paar Jahre voraus waren.