«Ich will das nicht sehen!»
Während zwei Wochen stellten zehn junge Künstlerinnen und Künstler ihre Werke in einem Sek-Schulhaus aus. Zu sehen gab es Fotos von nackten Körperteilen. Nicht nur, aber auch. Das verstörte einige Schülerinnen und Schüler. Sie teilten ihr Befremden auf Post-it-Zetteln mit. So entstand ein Dialog über Kunst – wenn auch ganz anders, als ursprünglich geplant.

Aus der Künstlerszene hätte es vielleicht Applaus gegeben. Ein freundliches Lob, ein zustimmendes Nicken, Schulter-tätscheln – «tolles Werk!»
Blöd nur, dass das Publikum dieses Mal nicht aus der eigenen Filterblase heranflaniert kam, sondern eher so aus dem luftleeren Raum zwischen Teenie- und Erwachsenen-Welt antaumelte. Und dann nicht lobte, nicht klatschte, sondern sec mitteilte: «Ich finde das hässlich!»
Die Kritik bezog sich vorwiegend auf das, was die Jugendlichen auf der Damen- und Herrentoilette zu sehen bekamen. Dort nämlich zeigte die 22-jährige Luzernerin Aline Peter ihre Arbeit «zwischen den Blutzellen». Diese bestand aus Texten, Zeichnungen, Bildern und Fotografien und sollte Gefühle wie Ausgeschlossenheit, Offenbarung, Zurückweisung oder Zuneigung repräsentieren. Die junge Künstlerin befasste sich in ihrer Arbeit auch mit Beziehungen zu anderen und zu sich selbst. «Ich zeige mich darin sehr verletzlich, sehr offenbarend», erklärt sie, deshalb habe sie sich das WC als Ausstellungsort ausgesucht. «Mir schien das passend, weil es der Ort im Schulhaus ist, an dem sich die Jugendlichen selber am Nächsten sind. Sie sind alleine in diesem intimen Moment, müssen für einmal nicht ‹cool› sein und lassen sich so vielleicht am ehesten darauf ein.»
Aufwühlende Akt-Fotos auf der Schultoilette
So kam es, dass den Jungs am Montagmorgen beim Pinkeln auf einer Zeichnung eine nackte, menstruierende Frau «entgegenblutete», während es auf dem Mädels-Klo Fotos von Vulvas oder eine Zeichnung von zwei aufeinanderliegenden Körpern zu betrachten gab. Oder das Gemälde einer Frau, die – nackt auf dem Bett liegend – an ihren Geschlechtsorganen herumfummelte. Das Entsetzen bei den Jugendlichen sei gross gewesen, erzählt Sekundarlehrerin Nadine Urmi, die die Ausstellung mitinitiiert hatte. «Man stellt doch nicht dar, wie man Sex hat oder wie eine Vulva aussieht», sei der Tenor gewesen. «Die Bilder waren kontrovers und wurden sofort zum Riesenthema – bei Schülerinnen und Schülern, und auch bei einzelnen Eltern.» Nicht bedacht habe man, dass die Jugendlichen – würden sie die Vulva-Fotos abfotografieren – pornografisches Material auf dem Handy hätten. «Deshalb haben wir die Aufnahmen noch am selben Montag abgehängt», so Nadine Urmi. Einige Eltern hätten kritisch nachgefragt, sich erkundigt, ein Vater hat die Ausstellung besucht, um sich vor Ort einen Eindruck zu verschaffen. Diese Bereitschaft, sich auf das Thema einzulassen, um es besser zu verstehen und es vielleicht mit der Tochter oder dem Sohn nochmals zu besprechen, habe sie sehr geschätzt.
Mit Zettelchen entstand ein heimlicher, anonymer Dialog
Nach intensivem Austausch mit der Künstlerin und mit dem Ausstellungs-Initiator Florian Rubin habe man schliesslich entschieden, mit den Jugendlichen den Dialog zu suchen, sie zur Auseinandersetzung mit den Werken zu animieren. «Ich habe gedacht, dass die Schülerinnen und Schüler solche Bilder längst im Internet gesehen haben, dass solche Sujets keine Neuigkeit mehr sind», sagt die Künstlerin Aline Peter rückblickend. Sie verfasste einen Brief, worin sie den Jugendlichen die Absicht ihrer Werke näher erklärte.
Ausserdem kriegten die Schülerinnen und Schüler Post-it-Zettel zur Verfügung gestellt, um persönliche Kommentare zu den Werken zu notieren. «Ich kann nicht ausweichen!», schrieb jemand, «ich will selber bestimmen, ob ich mir das anschaue» oder «Ich finde das hässlich! Ich will das nicht sehen!». Die Zettel durften die Jugendlichen hinkleben, wo sie wollten. Das gab ihnen die Möglichkeit, verpönte Stellen zu zensieren. So entwickelte sich die Ausstellung in beiden Toiletten laufend weiter.
Im Herren-WC fehlte schon am zweiten Tag der Tampon, den die Künstlerin an die Wand geklebt hatte. Als sie ihn ersetzt hatte und er erneut entwendet worden war, schrieb sie auf ein Post-it: «Tampons klauen ist fies.» Kurz darauf klebte ein zweites Zettelchen darunter: «Nein, ist es nicht. LG der Täter.» Die Künstlerin freute sich über den «heimlichen, anonymen Dialog», der so entstand. Und auch darüber, dass der Tampon auf dem Herren-WC offenbar auf Interesse stiess. Sie fand später die Überreste der Plastikfolie.
Der Anblick eines Sport-Sujets löste in einem Mädchen Unzufriedenheit aus
Auch Sekundarlehrerin Nadine Urmi wertet den Austausch, der mit den Jugendlichen entstand, als Erfolg: «Dieser Dialog, die Auseinandersetzung ist das, was wir wollten.» Ihr Anliegen sei es gewesen, ihnen mit dem Projekt die zeitgenössische Kunst näherzubringen. Sie sei sofort begeistert gewesen, als ihr ehemaliger Schüler Florian Rubin – inzwischen Kunststudent – auf sie zugekommen sei mit der Idee, in einem Schulhaus in Hausen eine Ausstellung zu organisieren. Oftmals fehle ihnen dieser Zugang: «Wenn etwas nicht sofort verständlich ist, hängen sie ab.» Malereien müssten nach ihrem ästhetischen Verständnis «schön» sein. Das sei normalerweise der Fall, wenn etwas eindeutig erkennbar sei: «Nichtgegenständliches lehnen viele Jugendlichen ab. Es ist für sie keine Kunst.» In einem Workshop mit zwei Künstlerinnen haben die Schülerinnen und Schüler mit Tusche auf grossen Papierbögen gemalt; mit einem Stift, der ihnen genaues Zeichnen verunmöglicht hat und dadurch vielleicht gezeigt hat, dass nicht alles einem starren Schema folgen muss, sondern dass man auch auf eine andere, abstraktere Art etwas ausdrücken, etwas zeigen kann.
Das eigene Verständnis von Ästhetik war auch bei der Betrachtung der Werke Thema: Eine junge Frau kommentierte das Gemälde eines Fitnessgeräts mit den Worten, sie könne dieses Bild nicht anschauen, sonst fühle sie sich dick und schäme sich für ihren Körper.
Experimentierfreude: Ein Schüler platzierte fremde Sujets im Schulhaus Immer wieder habe es Schlüsselmomente gegeben in dieser aufregenden Woche. Wenn jemand plötzlich fragte: «Was macht denn nun eine Künstlerin aus?», oder wenn ein Talent zum Vorschein kam, das im regulären Schulbetrieb nicht abgefragt wird. Wenn eine Installation zuerst Ekel und Widerstand auslöste, dann aber einen Dialog anstiess. So geschehen bei den 72 selbstgenähten Unterhosen von Künstlerin Brikena Buqaj, die auf die 72 Jungfrauen anspielen, welche einem Mann im muslimischen Paradies versprochen werden. Einige haben an der Finissage eigene Zeichnungen ausgestellt, und ein Schüler wiederum liess fremde Sujets in die Ausstellung einfliessen – um zu sehen, ob es seinen Kolleginnen und Kollegen auffällt.
Die Irritation ist geglückt
Auch Initiator Florian Rubin und Co-Organisatorin Anica Nizic ziehen insgesamt ein positives Fazit und sind dankbar, dass die Sek Hausen die Ausstellung ermöglicht hat. Es seien lehrreiche, aber auch intensive Tage gewesen. «Es war nicht ganz einfach, den Zugang zu den Jugendlichen zu finden», so der 25-jährige Florian Rubin. In der Kunstschule seien sie sich eine andere Art von Feedback gewöhnt. «Dort geht es viel gesitteter zu und her», sagt er, und muss selber lachen. Von den Jugendlichen jedoch seien sie zu Beginn richtiggehend abgelehnt worden – wenn auch nicht ganz unerwartet. Aber: «Wir haben sie mit unserer Ausstellung irritiert, und manche haben diese Irritation genutzt und wurden neugierig. Das ist für uns ein Erfolg.»