«Übermässiger Konsum ist immer ein Ventil»
Die Suchtprävention der Bezirke Affoltern und Dietikon in Schlieren wird 30

Februar 1995: Die Stadt Zürich riegelt den Letten ab und setzt der offenen Drogenszene damit offiziell ein Ende. Das Areal an der Limmat beim stillgelegten Bahnhof Letten war als Treffpunkt von Fixern und Dealern auf den Platzspitz gefolgt, der schon drei Jahre früher geräumt worden war. Nun, 30 Jahre später, ist die Suchtprävention in den Gemeinden und Bezirken der Schweiz fest verankert. Die Suchtprävention der Bezirke Affoltern und Dietikon mit Sitz in Schlieren – kurz: Supad – feiert dieses Jahr ihr 30-jähriges Bestehen.
«Das Leid ist heute nicht mehr so offensichtlich, das Problem ist aber noch gleich gross», sagt Gabriela Hofer, Stellenleiterin der Supad, im Gespräch mit dieser Zeitung. So bleibe zum Beispiel eine Alkoholsucht oftmals unbemerkt, da sie im Versteckten stattfinde. «Vor 30 Jahren standen vor allem das Heroin-Elend und die Beschaffungskriminalität im Vordergrund, man wollte eine weitere offene Drogenszene um jeden Preis verhindern», sagt die 44-Jährige, die seit neun Jahren bei der Supad arbeitet und die Stelle seit drei Jahren leitet.
Heute sei zum Beispiel die zunehmende Vereinsamung ein präsentes Thema, vor allem im Alter. Auch Verhaltenssüchte wie eine Handy- oder Social-Media-Sucht seien eine neuere Erscheinung. «Das hat mit der enorm schnellen Entwicklung der digitalen Welt zu tun», so Hofer. «Viele Apps sind gezielt so programmiert, dass sie bei Nutzerinnen und Nutzern einen Dopaminausstoss auslösen, was schnell zu Abhängigkeiten führen kann.»
«Wissensvermittlung allein ist nicht nachhaltig»
«Als man damals den Letten räumte, wollte man verhindern, dass sich die offene Drogenszene wieder woanders fortsetzt», sagt Hofer. Die Süchtigen kehrten in ihre Gemeinden zurück, diese waren auf Unterstützung angewiesen. Basierend auf der Vier-Säulen-Drogenpolitik (siehe Box) sei die Forderung nach einer flächendeckenden Suchtprävention aufgekommen, so Hofer. Bis 1995 war die Suchtprävention im Limmattal noch Aufgabe der mobilen Jugendberatung.
1995 wurde die Suchtprävention von der Jugendberatung getrennt und als Fachstelle für den Bezirk Dietikon in den Sozialdienst Limmattal integriert. Zwei Jahre später schlossen sich die Gemeinden des Bezirks Affoltern an. «In den Anfangszeiten stand noch die Vermittlung von Wissen im Vordergrund», so Hofer. «Heute wissen wir, dass Wissensvermittlung alleine nicht nachhaltig ist. Es braucht auch strukturelle Prävention.»
Suchtprävention passiere heute vielmehr über gute Beziehungen, beispielsweise zwischen Lehrperson und Schülerinnen und Schülern. Anstatt Konsum grundsätzlich verhindern zu wollen, setze die Suchtprävention heute auf die Vermittlung von Kompetenzen, um anderweitig mit negativen Emotionen umgehen zu können.
Suchtprävention ist, die Menschen zum Reflektieren anzuregen. «Wenn man Jugendliche beispielsweise fragt, was für sie die positiven und negativen Seiten vom Kiffen sind, löst man eine Diskussion aus», sagt Hofer. Das Ziel dabei ist die Entwicklung einer gesunden Konsumkompetenz ohne Risiko.
Kinder lernen Lebenskompetenzen durch Spielzeugverzicht
Dafür setzt die Suchtprävention bei den jüngsten Kindern an: Bereits im Kindergarten könne man Lebenskompetenzen vermitteln, etwa durch das Projekt «Spielzeugfreier Kindergarten», wie Hofer sagt.«Dabei gehen die Spielzeuge für sechs bis acht Wochen in die Ferien.» In dieser Zeit seien die Kinder zum Spielen auf das Chindsgi-Mobiliar angewiesen und es komme vermehrt zu Rollenspielen, wodurch sie lernen, mit Konflikten und Gefühlen umzugehen und kreativ zu sein.
«Übermässiger Konsum ist am Ende immer ein Ventil, um etwas zu regulieren», sagt Hofer. «Sucht ist eine Erkrankung, aber auch immer eine Begleiterscheinung von etwas Tieferliegendem.» Fehlen einer Person Bewältigungsstrategien, um mit negativen Gefühlen und Erlebnissen umzugehen, sei das Suchtrisiko höher.
Das vierköpfige Team der Supad bildet unter anderem Fachpersonen wie Lehrerinnen, Kita-Mitarbeiter, Pflegepersonal in Altersheimen oder Spitex-Organisationen sowie Gemeindeangestellte aus. Dies durch 1:1-Beratungen, Informationsveranstaltungen oder Schulungen. So sollen die Fachpersonen das Werkzeug erhalten, um das gewonnene Wissen an ihre jeweiligen Zielgruppen weiterzugeben. Dies habe sich als wirkungsvoll erwiesen, so Hofer. «Es wäre auch gar nicht möglich, mit allen rund 165000 Menschen in unserem Einzugsgebiet direkt zusammenzuarbeiten.»
Konsum von Kokain, E-Zigis und Medikamenten nimmt zu
Dass die Supad dieses Jahr ihr 30-jähriges Bestehen feiert, hat auch eine emotionale Komponente: «Beim Erstellen des Flyers für unser Jubiläum haben wir erkannt, wie stark sich die Suchtprävention in den vergangenen Jahren entwickelt hat», sagt Hofer. «Wir decken heute so viele Themen ab, und in unserem Team gibt es so viel Know-how.»
Aktuell beobachtet die Supad bei verschiedenen Suchtmitteln einen Anstieg: «Der Kokainkonsum hat in den letzten Jahren zugenommen», sagt Hofer. Sorgen bereiten ihr auch E-Zigaretten, die ganz gezielt auf junge Menschen abzielen würden, etwa mittels unterschiedlicher Geschmacksrichtungen. Ebenfalls eine Zunahme sei beim Medikamentenkonsum von Jugendlichen zu beobachten. Hofer führt dies unter anderem auf den Einfluss aus der Rapszene zurück, in der Medikamente wie Xanax teils bejubelt würden.
Ein wichtiges Thema sei und bleibe zudem die psychische Gesundheit, sagt Hofer. Die Tendenz, dass psychische Probleme zunehmen, bestehe schon länger – «dies wegen der modernen Leistungsgesellschaft oder des Weltgeschehens wie Kriege oder Klimakrise», wie sie sagt. Hinzu komme der verstärkte Medienkonsum, der dazu führe, dass vielen Menschen ein Ausgleich fehle. «Dadurch steigt wiederum der Bedarf nach Suchtprävention», so Hofer.
Momentan hat die Supad 265 Stellenprozent. «Nach 30 Jahren wäre es jetzt an der Zeit, unsere Stelle zu vergrössern», sagt Hofer – seit ihren Anfängen sei die Supad nicht gewachsen. Wegen knapper Ressourcen verzichtet die Supad auch auf ein spezielles Jubiläumsprogramm. «Hätten wir mehr Ressourcen, würden wir gerne vermehrt proaktiv auf Gemeinden, Institutionen und Vereine zugehen», sagt Hofer. Und: «In erster Linie würden wir gerne unseren Kernbereich, die Schule, stärken, und auch aktiv auf Lehrbetriebe zugehen.»
Die Supad als Teil der Drogenpolitik auf vier Säulen
Nach dem Ende der offenen Drogenszene in der Stadt Zürich im Jahr 1995 machte die Vier-Säulen-Drogenpolitik in der Schweiz Schule. Die Schweiz wurde damit zu einem internationalen Vorbild. Das Modell basiert auf den vier Säulen Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. Mit der Revision des Betäubungsmittelgesetzes 2008 wurde das Vier-Säulen-Prinzip auch gesetzlich verankert. So nimmt das Betäubungsmittelgesetz heute Bund und Kantone in die Pflicht, für Massnahmen in den vier Bereichen zu sorgen. Die Supad ist eine Fachstelle vom Sozialdienst Limmattal und für die Suchtprävention in allen 11 Gemeinden im Bezirk Dietikon sowie in allen 14 Gemeinden im Bezirk Affoltern zuständig. Sie wird zu 70 Prozent proportional zur Einwohnerzahl von den Gemeinden finanziert und zu 30 Prozent vom Kanton Zürich. (vir)