Was am Lebensende wirklich zählt

Serie «Gut altern»: Sinn finden in der Arbeit mit sterbenden Menschen

Abendstimmung bei der Villa Sonnenberg. (Bilder Regula Zellweger)

Abendstimmung bei der Villa Sonnenberg. (Bilder Regula Zellweger)

Markus Minder vor einem Bild, das ihn an seinen verstorbenen Vater erinnert.

Markus Minder vor einem Bild, das ihn an seinen verstorbenen Vater erinnert.

Die Frau mit spanischen Wurzeln ist unheilbar krank. Sie hat noch einen ­einzigen Wunsch: nochmals das Meer sehen. Trotz medizinischer Bedenken bestärkt Markus Minder, Co-Chefarzt Zentrum für Altersmedizin und Palliative Care am Spital Affoltern, die Familie, die Frau mit dem Auto nach Spanien zu fahren. Wieder zurück, konnte sie zu Hause im Kreis ihrer Familie friedlich sterben.

Markus Minder war beispielsweise auch Trauzeuge bei einer Hochzeit, die im Palliativzentrum stattfand. Gemeinsam stiess man auf dem Balkon der Villa Sonnenberg auf das Brautpaar an. Der Mann, schwerstkrank, war glücklich, dass sein letzter grosser Wunsch erfüllt wurde. Markus Minder begleitet Menschen in ihrem letzten Lebensabschnitt und empfindet grosse Dankbarkeit für diese sinnvolle Aufgabe. Als Ärztlicher Direktor fallen ihm vielerlei Aufgaben zu, die er mit grossem Verantwortungsgefühl übernimmt. Aber am meisten befriedigt ihn die Arbeit mit Sterbenden und ihren Angehörigen, vor allem die interessanten und bewegenden Gespräche geben ihm persönlich viel. «Ich darf am Leben von Menschen Anteil nehmen. Es sind oft die kleinen, unspektakulären Dinge, die mich berühren und woraus ich auch viel für mein Leben lerne.»

Fragen am Lebensende

Über 90 Prozent der Menschen wünschen sich einen plötzlichen Tod oder einen Abschied nach kurzer Krankheit, aber nur knapp 10 Prozent sterben von einem Moment auf den anderen. «Jeder Mensch muss seinen Weg vom Sterben-Müssen zum Sterben-Dürfen individuell finden», formulierte Roland Kunz, der als Palliativmediziner am Spital Affoltern die Kultur im Umgang mit unheilbar Kranken massgeblich geprägt hatte. Der Prozess, den Menschen vor dem Sterben durchleben, ist so vielfältig, wie es Menschen gibt. Markus Minder weiss, wie schwer das Sterben sein kann, wenn Menschen beispielsweise nicht sterben wollen. Er kennt die Fragen, auf die es keine Antwort gibt: Warum ich? Warum habe ich mich nicht intensiver um meine Familie gekümmert? Warum habe ich mich mit liebenswerten Menschen zerstritten und keinen Weg zur Versöhnung gesucht?

Oft ist beispielsweise beruflicher Erfolg ein Hauptthema im Leben, aber am Lebensende scheint er keine Rolle mehr zu spielen. Da treten Beziehungen in den Mittelpunkt. Und Nicht-Gelebtes. Markus Minder nimmt sich gern Zeit für Gespräche. Er ist glücklich, wenn er beobachten darf, dass Klärungen und Versöhnungen gelingen, dass Worte gesagt werden, die längst fällig waren. Meist kehrt sogar eine gewisse Gelassenheit ein. Zum Schluss scheint der Tod nicht mehr so bedrohlich. Viele dieser Gespräche bleiben in seiner Erinnerung haften. Und immer wieder nimmt er sich vor, sich beispielsweise mehr Zeit für die Partnerschaft, für die Kinder, für Freunde zu nehmen. Er hat gelernt, dass es gut ist, im Jetzt zu leben und Träume und Wünsche nicht vor sich herzuschieben, bis es zu spät ist.

Arbeit mit Menschen am Lebensende

Carmen Kissling arbeitet seit der Eröffnung des Kompetenzzentrums Palliative Care 2010 in der Villa Sonnenberg, von 2016 bis 2024 als Pflegerische Leiterin. Heute, im Pensionsalter, springt sie in der Villa Sonnenberg noch ein, wenn Not am Mann ist. «Ich unterstütze das Team gern bei Personalengpässen.»

Wie auch Markus Minder schätzt sie die Gespräche mit Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. «Ich habe die Offenheit in den Gesprächen immer sehr geschätzt. Die Patienten und Patientinnen waren beispielsweise meist viel weiter im Verarbeiten des baldigen Sterbens als die Angehörigen. Diese durften wir begleiten, mit dem Gedanken, einen lieben Menschen zu verlieren. Was mir auch wichtig ist: Nicht alle haben die gleichen Werte, nicht alle Menschen wollen über den Tod sprechen, weder mit ihren Angehörigen noch mit den Professionellen. Und das darf auch sein.»

Die meisten Menschen wünschen sich Autonomie – möglichst bis zuletzt. Aber Autonomie einfordern heisst auch, Verantwortung übernehmen.

«Auch wenn die Angehörigen bis zum Schluss kämpfen wollen, das darf sein, solange der Patient nicht leidet und diesen Weg auch einschlagen möchte», ist Carmen Kissling überzeugt. Sie begleitet Angehörige auch über den Tod des geliebten Menschen hinaus. «Bei Todesfällen versuche ich, die Angehörigen so zu unterstützen, dass ihnen viele Steine aus dem Weg geräumt werden, und sie mit guten Bildern in ihrer Trauer begleitet werden.»

Wabe: Wachen und begleiten

Der Verein Wabe wurde 2016 gegründet. Carmen Kissling übernahm darin über mehrere Jahre verschiedene Aufgaben. Ab Sommer 2024 präsidiert sie den Verein. Die Mitglieder begleiten schwer kranke und sterbende Menschen zu Hause oder in Institutionen. Dabei entlasten und unterstützen sie betreuende Angehörige und ergänzen Fachpersonen. Carmen Kissling verfügt über viel Fachwissen und fundierte Weiterbildung im Bereich Palliative Care. «Es ist mir wichtig, die freiwilligen Begleiterinnen und Begleiter so zu unterstützen, dass sie sich befähigt fühlen, ihre Zeit den Patienten und Angehörigen zu schenken. Die Freiwilligen im ambulanten Bereich liegen mir auch am Herzen. Es gilt, Angehörige zu entlasten, für eine Nacht oder regelmässige Entlastung der Angehörigen von dementen Patienten. Die regelmässigen Entlastungen beispielsweise von dementen Menschen werden von den Angehörigen sehr geschätzt. Die Dienstleistungen sind unentgeltlich, denn oft werden Hilfeleistungen nicht in Anspruch genommen, weil es viel kostet, wenn ein kranker Angehöriger zu Hause betreut wird.»

Am Ende des Lebens

Carmen Kissling hat, wie auch Markus Minder, viele Menschen im Sterbe­prozess begleitet. Die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten sind sehr unterschiedlich. Sie erklärt: «Wenn Patienten bei uns auf der Palliativstation sind, kommt es darauf an, in welcher Lebenssituation und in welchem Stadium der Krankheit sie hospitalisiert sind. Bei Patienten im arbeitsfähigen Alter geht es auch um rechtliche und finanzielle Fragen. Die Sterbenden sorgen sich, wie es ihrer Familie finanziell schaffen kann, wie es die Kinder, die noch nicht volljährig sind, verkraften werden.» Zudem können Lebens- und Sinnkrisen die Menschen begleiten, hier braucht es Zeit für Gespräche und ­allenfalls den Einsatz von weiteren ­Fachpersonen.

«Oft wünschen sich die Patienten eine optimale Symptomkontrolle», erzählt Carmen Kissling. «Sie wünschen sich keine Schmerzen, keine Atemnot, Zeit, um einiges zu regeln und Zeit, um mit besserer Lebensqualität nochmals zu Hause mit der Familie zu sein. Wenn diese Phasen vorbei sind, wünschen sich Kranken oft, sterben zu können. Der Sterbewunsch kommt oft, wenn alles geregelt ist und die Lebensqualität nicht mehr vorhanden ist und auch nicht mehr erreicht werden kann. Sie wünschen, die Situation nicht mehr aushalten zu müssen, oder, im Alter, alles ablegen zu können, da das Leben vorbei ist.»

Markus Minder und Carmen Kissling haben beide ihren Beruf, ihre Berufung, bewusst gewählt. Sie teilen ihre Erfahrungen und Erkenntnisse: Es gilt, im Jetzt zu leben, sich seine Bedürfnisse einzugestehen und sie zu erfüllen und nicht zuzuwarten. Es gilt, Konflikte heute zu lösen, klärende Worte auszusprechen und Ordnung zu schaffen in den Beziehungen. Und es gilt, sich mit dem Sterben und dem Tod auseinanderzusetzen und sich allfälligen Ängsten zu stellen. Beiden ist bewusst: «Oft sind unsere Wünsche nicht zwingend die Wünsche der Patienten. Es ist unsere Aufgabe, verschiedene Wertvorstellungen zu akzeptieren.» Menschen, die mit Sterbenden arbeiten, als Fachpersonen oder als Freiwillige, entwickeln in ihrer Arbeit einen gesunden Respekt vor dem Tod und gewinnen ein Stück Gelassenheit, wenn es um die Endlichkeit jedes Lebens geht. Sie erleben bei Sterbenden oft grosse Dankbarkeit und schätzen sich glücklich, mit der Begleitung unheilbar kranker Menschen und deren Angehörigen sinnvolle Aufgaben übernehmen zu dürfen.

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