Rigling im Medaillenrausch

Wie die Hedinger Velofahrerin mit zwei Fingern und zwei Zehen zur Botschafterin des Parasports wurde

Flurina Rigling auf dem Zürcher Sechseläutenplatz. (Bilder Andrea Zahler/CH Media)

Flurina Rigling auf dem Zürcher Sechseläutenplatz. (Bilder Andrea Zahler/CH Media)

Die Hedingerin kam mit zwei Zehen zur Welt. Zuletzt sorgte sie an der Bahn-WM in Rio de Janeiro mit herausragenden Leistungen für Furore.

Die Hedingerin kam mit zwei Zehen zur Welt. Zuletzt sorgte sie an der Bahn-WM in Rio de Janeiro mit herausragenden Leistungen für Furore.

Sie spricht an Mitarbeiteranlässen von Grosskonzernen, in Schulen und vor Rotariern, in Veloclubs und an Geburtstagen, hielt auch schon eine 1.-August-Rede. Daneben schliesst Flurina Rigling ihr Masterstudium der Politikwissenschaft ab. Ihr Terminkalender? Rappelvoll.

Kein Wunder, klingelt der Wecker der 27-Jährigen morgens bereits um 5.30 Uhr – spätestens. Denn ihr Hauptberuf ist ein anderer: Spitzensport. Bis zu 30 Stunden trainiert die Velofahrerin in der Woche. Auf über 14000 Kilometer im Jahr kommt sie auf der Strasse. Nicht eingerechnet ist die Strecke, die sie in Training und Wettkampf auf der Bahn zurücklegt.

Rigling gehört derzeit zu den erfolgreichsten Schweizer Sportlerinnen. Von den Bahn-Weltmeisterschaften in Rio de Janeiro Mitte März kehrte sie mit fünf Medaillen zurück: Gold im Omnium (Mehrkampfwertung bestehend aus Scratch, Sprint, Einzelverfolgung und 200 Meter fliegend), dazu Silber in Einzelverfolgung, Elimination und Scratch und Bronze im Sprint. Rigling ist im Medaillenrausch.

Denn schon 2023 in Glasgow, wo neben der Bahn-Weltmeisterschaft auch die Strassenrennen stattfanden, gewann sie fünf Medaillen. Nun steht sie vor dem Sommer ihres Lebens: zunächst mit ihren ersten Paralympischen Spielen in Paris (28. August bis 8. September) und kurz darauf mit der Heim-WM in Zürich (21. bis 29. September).

Dabei kam Rigling erst vor fünf Jahren zum Radsport. Als Kind war sie polysportiv im Ausdauersport, spielte in der Schule Unihockey, später probierte sie sich im Bergsport. Als Kind verbrachte sie mit ihren Eltern – die Mutter ist Lehrerin, der Vater Waldforscher an der ETH – und ihrer Schwester viel Zeit in den Bergen. «Viele Wanderungen musste ich barfuss beenden, weil die Füsse schmerzten», erinnert sich Rigling.

Statt Klavier spielte sie Appenzeller Hackbrett

Grund dafür ist ein Geburtsgebrechen. Rigling lebt mit einer Genmutation, die weltweit vermutlich einzigartig ist. Sie hat an den Füssen nur je einen Zeh und an den Händen je einen Finger. Deshalb kann sie nicht gut greifen und ihre Wadenmuskulatur nicht einsetzen. So kann sie beim Radfahren mit den Beinen nur drücken, aber nicht ziehen. Sie nennt es «meine Normalität». Sie könne zwar nicht Klavier spielen (stattdessen spielte sie Appenzeller Hackbrett) und rudern wie ihre Schwester, «aber sehr viel anderes geht – und das beherrsche ich vielleicht sogar besser».

Aufgewachsen ist Rigling auf einem ehemaligen Bauernhof in Hedingen. Mit Hasen, Katzen, Hund und einem grossen Garten. Noch heute lebt sie dort, weil es ihr gefällt und weil sie ihr Geld gut einteilen muss. Von den Eltern wurde sie gefördert und gefordert, mit ihren Voraussetzungen zu leben.

Schon als kleines Mädchen eignete sie sich Kniffe an, um eine Ovo-Büchse zu öffnen, die Kleider ihrer Barbiepuppen zuzuknöpfen und Schuhe zu binden. «Wenn ich etwas wollte, dann musste ich üben, immer wieder üben, bis ich es schaffte», sagt sie in einem Café im Zürcher Seefeld, wo sie das Gymnasium mit Schwerpunkt Latein besuchte. Um zu demonstrieren, greift sie zu einem Stift und unterschreibt auf einer Papierserviette.

Über das Radfahren sagt sie: «Es ist eine Leidenschaft, die mich total erfüllt. Die Geschwindigkeit, die Ruhe, bei der ich abschalten kann, dabei lange Strecken zurücklege und schöne Landschaften entdecken darf.» Vor allem aber, sagt Rigling: «Es gibt mir Freiheit und Unabhängigkeit.»

Davon geträumt, dereinst ein Leben als Profisportlerin zu führen, hat sie schon als Kind, daran geglaubt aber nicht. «Weil ich weiss, dass die Luft an der Spitze sehr dünn ist und ich einfach andere Voraussetzungen habe.» Die Idee, ihre Leidenschaft im Parasport auszuleben, kam erst spät. Sie sagt: «Ich fühlte mich dort nicht zugehörig.» Sie meint das nicht wertend, sondern beschreibt damit ihre innere Haltung. Alle Menschen seien unterschiedlich und alle hätten limitierende Faktoren, ohne sich darüber zu definieren. Sie sagt: «Das Wort Behinderung höre ich nicht so gerne.»

Es kostete sie Überwindung, Kontakt mit PluSport, der Fachstelle für ­Behindertensport, aufzunehmen. Para­cycling-Trainer Dany Hirs nahm Rigling unter seine Fittiche, erkannte ihr Talent und ihre Willenskraft. Sie sagt: «Er hat mich mit seinem Enthusiasmus angesteckt.» 2020 wird sie zweifache Schweizer Meisterin, 2021 gewinnt Rigling EM-Gold, 2022 folgt WM-Gold in der Einzelverfolgung – in Weltrekordzeit. Kurz darauf rückt sie in Magglingen in die Spitzensport-RS ein – mit allen Regelsportlern.

Wie professionell Rigling ihren Sport betreibt, zeigt sich am Umfeld. Dazu gehören: Sportärztin, Strassen-, Bahn- und Krafttrainer, Velomechaniker, Aerodynamik-Spezialisten, Biomechaniker, Physiotherapeutin, Sportpsychologin und eine Ernährungsspezialistin.

Riglings Velomechaniker, unterstützt von zwei ETH-Ingenieuren, arbeitet akribisch daran, Lenker und Schaltung laufend an ihre Bedürfnisse ­anzupassen, um Komfort und Sicherheit zu erhöhen. Mittels Aerotests und neu auch Tests im Windkanal wird ihre Position auf dem Rad optimiert.

Ihre Rennschuhe kommen aus dem 3D-Drucker

Sie organisiert sich selbst und wird dabei vom Verband PluSport, dem Kompetenzzentrum für den Parasport in der Schweiz, Sponsoren und Gönnern und von der Sporthilfe sowie der Schweizer Armee unterstützt. Sie helfen, die hohen Kosten für Material, technische Anpassungen, Trainingslager und Reisen mitzutragen. So kostet ein Paar Rennschuhe bis zu 4000 Franken. Sie werden von einem Orthopäden massgeschneidert und kommen aus einem 3D-Drucker.

Nach Abschluss des Studiums will Rigling als Profisportlerin leben, sicher bis 2028, wenn in Los Angeles die nächsten Paralympischen Spiele über die Bühne gehen. Dazu will sie Spanisch lernen, «am liebsten verbunden mit einem längeren Aufenthalt, zum Beispiel in Kolumbien oder Spanien». Weder Ideen noch Ziele scheinen der 27-Jährigen auszugehen.

Dass sie fast jede Woche irgendwo Vorträge hält, hat aber einen anderen Grund. Der Parasport, dem sie sich lange nicht zugehörig gefühlt hatte, habe ihr eine neue Welt eröffnet. Sie sagt: «Ich habe Menschen aus der ganzen Welt und mit den unterschiedlichsten Geschichten kennengelernt.»

Viele von ihnen kamen nach Schicksalsschlägen zum Parasport. Sie hingegen kenne es nicht anders. «Zu sehen, wie diese Menschen damit umgehen und welche Leistungen sie erbringen, ist für mich enorm inspirierend», sagt Rigling. Ihr Horizont habe sich dadurch erweitert. «Ich glaube, dass die Gesellschaft vom Miteinbezug solch interessanter Menschen mit so viel Resilienz und Willenskraft profitieren sollte.»

Als Spitzensportlerin sei sie in einer privilegierten Situation und könne sich stärker für Inklusion und Integration im Regelsport und in der Gesellschaft einsetzen. «Ich möchte anderen Menschen in ähnlichen Situationen damit helfen und den Weg ebnen», sagt Flurina Rigling. Sie ist nun auch Botschafterin für den Parasport.

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