Im engen Kontakt mit Kundschaft

Auch im Detailhandel oder im Finanzbereich wirkt sich die Pandemie auf Lernende aus. Der direkte Kundenkontakt gestaltet sich beispielsweise im Detail­handel etwas anders, denn der geforderte Abstand und die Maskenpflicht beeinflussen das soziale Verhalten von Personal und Kundschaft. Berufsschulen setzen, wenn immer möglich, auf Präsenzunterricht.

Simone Müller setzt auf eine familiäre, dienstleistungsorientierte Grundhaltung im Lärche-Märt – dies schätzt auch der Lernende Memat Jiro. (Bild Regula Zellweger)
Simone Müller setzt auf eine familiäre, dienstleistungsorientierte Grundhaltung im Lärche-Märt – dies schätzt auch der Lernende Memat Jiro. (Bild Regula Zellweger)

Memat Jiro steht vor der Abschluss­prüfung seiner zweijährigen Lehre zum Detailhandelsassistenten EBA. Der 21-jährige Kurde aus Syrien hat sich gut integriert, nicht zuletzt durch die Möglichkeit, beim Lärche-Märt in Bonstetten vor der beruflichen Grundbildung ein Praktikum und eine Integrationsvor­lehre zu machen. Seit einem Jahr trägt er nun eine Maske im Kundenkontakt und in der Berufsschule. Nicht gern – aber er ist überzeugt von der Notwendigkeit und der Wirkung des Schutzkonzeptes. Er macht Kunden, welche die Maske falsch oder gar nicht tragen, darauf aufmerksam. Die Reaktionen sind nicht immer freundlich. Kunden, die keine Masken tragen wollen, können allenfalls im Freien bestellen – und die Ware wird ihnen dort ausgehändigt. Die grosse Mehrheit der Kunden des Lärche-Märts befolgt konsequent die Regeln. Für viele ist es nicht ein Ort zum anonymen Einkaufen, sondern ein Begegnungsort, wo sie sich wohlfühlen.

Gut vorbereitet zum Lehrabschluss

In der Berufsschule erfolgte der Unterricht nur über wenige Wochen online. Die Schulleitung setzte alles daran, die Lernenden wieder in den Schulzimmern unterrichten zu können. Dies entspricht Memat Jiro, auch wenn er einige Zeit für den Schulweg nach Zürich braucht. Beim Online-Unterricht meldet er sich nicht gern zu Wort. Seine Lehrmeisterin Simone Müller unterstützt ihre Lernenden im Laden optimal, in einer familiären Atmosphäre, aber die Verantwortung für die Schulleistungen müssen die jungen Leute selbst übernehmen.

Seit Beginn der Pandemie hat sich nicht viel verändert. Es wird einerseits weniger häufig eingekauft, aber pro Mal mehr Waren, weil man die Anzahl der Einkäufe im Laden möglichst gering halten will. Anderseits beobachtet man soziale Aspekte. Insbesondere allein­stehende, ältere Menschen verweilen, um Leute zu treffen und zu plaudern. Memat Jiro hat sich gut in diese familiäre Atmosphäre eingelebt und wird gut vorbereitet zur Lehrabschlussprüfung antreten. Corona hat ihn nicht ausgebremst, eher seine Sozialkompetenzen erhöht und im Lehrbetrieb und in der Schule konnte der Stoff bestens vermittelt werden.

Chancengleichheit

Anerkannte Abschlüsse der beruflichen Grundbildungen sollen auch 2021 erworben werden. Die Spezialregelungen wirken den während des Fernunterrichts möglicherweise entstandenen Benachteiligungen entgegen. Damit wird eine Chancengleichheit der Lernenden angestrebt. Christoph Bühlmann, Mitglied der Schulleitung der Berufsschule für Detailhandel, Zürich, erklärt: «Oberstes Ziel ist, die Qualifikationsverfahren 2021 im Bereich der beruflichen Grundbildungen gemäss geltendem Prüfungsrecht durchzuführen. Eine Verschiebung der Prüfungen gilt es unbedingt zu vermeiden, da die berufliche Grundbildung auch an die Berufsmaturität gekoppelt ist. Trotzdem: Nötigenfalls muss man eben vom geltenden Prüfungsrecht abweichen. Grundsätzlich muss die Gleichwertigkeit der Abschlüsse im Vergleich zu den vorangehenden und nachfolgenden Jahrgängen einhergehen. Abweichungen aus epidemiologischen Gründen bestehen im ­Wesentlichen in der Möglichkeit des Verzichts oder Teilverzichts auf die Abschlussprüfungen oder einer Reduktion der Prüfungsdauer.»

Die Arbeitswelt verändert sich

Wie sich die Pandemie auf die Bildungs- und Arbeitswelt der Zukunft auswirken wird, kann nicht vorhergesagt werden. Christoph Bühlmann führt aus: «Unabhängig von der Pandemie findet generell ein Wandel in den meisten Lehrberufen statt. Die Pandemie beschleunigt diesen Wandel hinsichtlich Digitalisierung, ­Logistik und Management.» Der Detailhandel befand sich bereits vor Corona in einem gewaltigen Umbruch. Dieser verlangt von den Mitarbeitenden im ­Detailhandel Flexibilität und hohe Veränderungskompetenzen. Gesellschaftliche und technologische Entwicklungen sowie Umweltfragen verlangen neue Definitionen der Tätigkeiten im Berufsleben jedes Berufstätigen, egal ob Manager oder Lernende.

Der Zukunftsforscher Matthias Horx kann dieser Entwicklung auch Positives abgewinnen: «Wir haben die Komfortzone, die längst brüchig geworden war, hinter uns gelassen. Im Sinne der Zukunft ist das keine schlechte Botschaft.» Junge Menschen, die heute ­einen Beruf erlernen, werden diesen nicht in der aktuellen Form bis zur Pensionierung ausüben. Die beruflichen Laufbahnen werden kaum mehr einspurig und gradlinig sein. Es liegt an jedem Einzelnen, was er daraus macht.

Christoph Bühlmann ist sich bewusst: «Es wird Verlierer und Gewinner geben. Der Internethandel wird weiter ausgebaut und professionalisiert, der stationäre Handel überlebt nur dann, wenn Kunden in Erlebniswelten eintauchen können. Ab August 2022 gibt es in der Grundbildung Detailhandel einen völlig neu konzipierten Ausbildungslehrgang; nach der Lehre entstehen zahlreiche attraktive, weiterführende Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Das ‹Grüezi-kann-ich-Ihnen-behilflich-sein› wird durch ein Customer Journey abgelöst.» Customer Journey, wörtlich übersetzt «Kundenreise», ist ein Begriff aus dem Marketing und bezeichnet die einzelnen Zyklen, die ein potenzieller Kunde durchläuft, bis er sich für ein Produkt, eine Marke oder ein Unternehmen entscheidet.

«In der neuen Grundbildung im ­Detailhandel werden die Lernenden künftig auch im Onlinemarketing ausgebildet, und die drei Lernorte Betrieb, Überbetriebliche Kurse und Schule arbeiten enger zusammen. Die Ausbildung wird generell anspruchsvoller», und mit Stolz ergänzt Christoph Bühlmann: «Im Zuge des Shutdown haben wir auf ‹Bring your own device›, Byod, umgestellt.» Byod bedeutet: Private mobile Endgeräte wie Laptops, Tablets oder Smartphones werden in die Netzwerke von Unternehmen oder Bildungsinstitutionen integriert. «Unsere IT-Infrastruktur wurde innert Kürze umgebaut. Einen Teil unserer Notebooks hat unsere Schule den Schülerinnen und Schülern im MNA-Zentrum Lilienberg in Affoltern geschenkt.»

Finanzbereich

Bis jetzt blieb Nikola Angelov, Lernender im dritten Lehrjahr bei der Raiffeisenbank Merenschwand-Obfelden, vom Homeoffice verschont. Bis jetzt. Nun aber bleibt er zehn Tage zu Hause. Quarantäne! Er verbrachte über Mittag in der Berufsschule Zeit mit einer Kollegin, die sich danach testen liess und infiziert ist. Er ist froh, selbst keine Symptome zu haben – aber zehn Tage beim schönen Frühlingswetter in den eigenen vier Wänden verbringen zu müssen, findet er wenig attraktiv. Homeoffice scheint ihm eher kompliziert, er arbeitet lieber vor Ort.

«Ich habe wirklich genug von der Pandemie», gibt er zu. Ihm fehlen all die Dinge, die junge Leute im Moment gerne tun würden. Und nun ist es bereits der zweite Frühling, während dem man sich nicht im grösseren Freundeskreis, nicht in Restaurants und Bars treffen kann.

Nikola Angelov hat beispielsweise einen Freund, der seit zwei Jahren eine Sisha Bar, eine Gastronomie, in der als besonderer Service das Wasserpfeifen Rauchen angeboten wird, betreibt. Der muss nun schauen, ob und wie es weitergeht. Irgendwie bleiben innovative Ideen heute eher stecken, man wartet ab.

Normal ist nicht mehr normal

Bei seiner Arbeit in der Bank kommt er kaum mit Menschen in Kontakt, deren wirtschaftliche Existenz in Frage gestellt ist. Ob die Leute nun mehr Geld zur Verfügung hätten, weil sie es nicht ausgeben können, beispielsweise für Ferien im Ausland? Nikola Angelov findet, in der Bankenwelt habe sich nicht viel verändert, auch Corona-Kredite würden weniger verlangt. Er meint aber, es gebe durchaus auch Gewinner in dieser ­Situation, beispielsweise Maskenhersteller oder der Onlinehandel.

Im Sommer wird Nikola die Lehrabschlussprüfung, das Qualifikationsverfahren, durchlaufen. Zu Beginn, während des Shutdown, fand er es zuerst cool, selbst bestimmen zu können, wann er die Schulaufgaben anpacken wollte. Unterdessen hat er aber längst begriffen, dass nun Disziplin und Eigenverantwortung gefragt sind. Deutsch liegt ihm, den Französischunterricht hingegen schätzt er nicht. Alle anderen Fächer bereiten ihm keine Sorgen. Er zieht den Präsenz- dem Onlineunterricht klar vor. «So lernt man besser!»

Wie geht es weiter?

Zukunftsforscher Matthias Horx erwähnt in seinem Health Report 2022, dass die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Spannungsfeld zwischen der Sehnsucht nach Nähe und Abstandsgeboten in unserer Gesellschaft ein Thema werden wird. Er sagt den Wohntrend «Hoffice» voraus: «Im ‹Hoffice› verschmelzen Wohnen und Arbeiten – und zugleich wird deutlich, dass diese Entwicklung gekommen ist, um zu bleiben. Wir werden künftig ­anders arbeiten.»

«Das ‹neue Normal› wird anders aussehen als das alte», ist er überzeugt. «Und auch ein Impfstoff wird den alten Zustand nicht wiederherstellen.» Das Jahr 2021 soll in vielerlei Hinsicht ­Entscheidungen bringen. «Im Jahr 2021 wird sich langsam eine neue Welt(un-)ordnung enthüllen. Covid-19 hat uns auf drastische Weise das ‹grosse Zuviel› gezeigt. Das Virus hat uns – oder sagen wir: sehr viele Menschen – mit der Wahrheit konfrontiert: Wir stecken in einer gigantischen Steigerungskrise. Und zwar schon lange. Die Pandemie ist ein Weckruf. Und vielleicht hat die ­Corona-Krise nur einen einzigen Sinn: der Menschheit unmissverständlich klarzumachen, dass es auch ohne sie nicht so weitergegangen wäre wie bisher. Dass das alte Normal schon ein ­Unnormal war.»

Junge Menschen, die jetzt eine ­berufliche Grundbildung absolvieren, werden sich vor vielerlei Herausforderungen gestellt sehen. Eine solide Ausbildung in verantwortungsbewussten Lehrbetrieben, ein unterstützendes, positiv denkendes Elternhaus und Vorbilder, an denen sie sich orientieren können, optimieren ihre Chancen, ­konstruktiv eine neue Zukunft zu ­gestalten.

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