«Ich brauchte die Zeit, um mich zu lösen»

39 Jahre hat Bruno Seiler an der Sekundarschule Obfelden-Ottenbach unterrichtet. Heute wird er pensioniert.

Sekundarlehrer Bruno Seiler, 65.<em> (Bild Mohammed Shahin)</em>
Sekundarlehrer Bruno Seiler, 65.<em> (Bild Mohammed Shahin)</em>

Wie kam es, dass aus Bruno Seiler ein Lehrer wurde? Er selbst sagt, mit seinen sprachlich-musischen Fähigkeiten habe sich das angeboten. Und weil er schon früher eher der praktische Typ gewesen sei, habe er sich nach dem Gymnasium nicht für das Romanistikstudium, sondern für die kürzere Ausbildung zum Sekundarlehrer entschieden. Nach seinem Abschluss 1979 unterrichtete Bruno Seiler während eines Jahres in Birmensdorf. Dann, im Jahr 1980, suchte die Sekundarschule Obfelden-Ottenbach eine Lehrperson mit Kenntnissen im Fach Italienisch. Bruno Seiler bewarb sich auf die Stelle, bekam sie – und blieb. 13 Sek-A-Klassen hat er in den letzten 39 Jahren begleitet und sie in Deutsch, Französisch, Italienisch, Geschichte, Zeichnen oder Musik unterrichtet.

«Anzeiger»: Nach 39 Jahren werden Sie heute Dienstag, 9. Juli, pensioniert. Wie sieht Ihr letzter Arbeitstag aus?

Bruno Seiler: Im Wahlfach Theater und Musik habe ich mit einer Klasse während des letzten Schuljahres ein Musical erarbeitet. Heute findet die Aufführung für die Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern statt.

Ist es Zufall, dass die Schlussvorstellung auf diesen Tag fällt?

Nein. Ich habe mich auf meinen letzten Arbeitstag gut vorbereitet und wollte bewusst mit einem Höhepunkt abschliessen.

Wie lange haben Sie sich vorbereitet?

Während der letzten drei Jahre. Bruno Fischer ging ja bereits 2016 in Pension, doch ich merkte damals, dass für mich der Zeitpunkt noch nicht passte. Deshalb entschied ich mich dazu, noch eine letzte Klasse zu begleiten und mich 2019 pensionieren zu lassen.

Warum war es 2016 für Sie noch zu früh, um aufzuhören?

Ich habe gerne unterrichtet und war noch nicht bereit, das aufzugeben. Die letzten drei Jahre habe ich gebraucht, um mich von meinem Beruf zu lösen.

Wurde das Unterrichten im Lauf der Jahre einfacher oder anspruchsvoller?

Ich habe stets hohe Ansprüche an mich selbst gestellt. Abgesehen davon würde ich nicht sagen, dass es anspruchsvoller geworden ist, nein.

Trotz des Altersunterschieds? Die Jugendlichen blieben stets gleich alt, während Sie immer älter wurden...

Das stimmt natürlich. Von den Schülerinnen und Schülern meiner letzten Klasse trennte mich ein halbes Jahrhundert. Trotzdem hatte ich wegen des Altersunterschieds keinen schlechteren Zugang zu ihnen, im Gegenteil.

Wie ist Ihnen das gelungen?

Mir war es immer wichtig, dass sie wissen, woran sie sind. Dass sie angehört werden und ihre Meinung äussern können. Und natürlich braucht es viel Empathie und Geduld. Ich habe nie einem gesagt: «Hast du es immer noch nicht kapiert?» (lacht.)

…Aber zum fünfhundertsten Mal den Konjunktiv zu erklären, das muss einen doch irgendwann langweilen.

Natürlich ist ein Teil des Unterrichts repetitiv. Trotzdem nahmen meine Herausforderungen nie ab. Mein Ziel war es, den Stoff stets noch besser zu vermitteln und die Schülerinnen und Schüler auch für Fächer zu motivieren, die ihnen nicht so liegen. Zum Beispiel Französisch: Dieses Fach habe ich 40 Jahre lang unterrichtet, und doch wurde es mir in keiner Stunde langweilig, die Jugendlichen bei der Stange zu halten und ihnen den Stoff möglichst verständlich zu erklären.

Gibt es eine Schulstunde, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Speziell war eine der letzten Lektionen. Da habe ich mit der Klasse eine Schulstunde inszeniert, wie sie im Roman «Die Welle» beschrieben wird. Ich habe den Lehrer gespielt, und die Schülerinnen und Schüler sind in die Rolle einer Schulklasse im Dritten Reich geschlüpft. Damit wollte ich ihnen zeigen, wie Manipulation entsteht.

Und, wie war das?

Recht eindrücklich. Sie haben mitgemacht, sind immer schön aufgestanden bei den Antworten und liessen sich von mir manipulieren. Von einigen Schülerinnen und Schülern habe ich aber auch Widerstand gespürt, die Situation hat durchaus verwirrt.

Eine Schülerin betritt das Zimmer. Bruno Seiler fragt, wie sie die Lektion erlebt habe. Sie sei verwirrt gewesen über das, was Herr Seiler erzählt habe und habe nicht mehr gewusst, was sie ihm noch glauben könne. «Ich war nicht sicher, ob ich überhaupt noch etwas anderes glauben darf und ob es noch erlaubt war, eine eigene Meinung zu haben.» Jedenfalls habe sie während der Lektion das Gefühl gehabt, nicht mehr sich selbst sein zu können.

Was reizt Sie an solchen Experimenten?

Ich spiele halt gern. Als Lehrer bin ich ja auch ein bisschen Schauspieler.

Ist die Irritation der Schülerinnen und Schüler Teil dieses Spiels?

Natürlich, ja.

Gab es noch andere Lektionen mit Potenzial zur Verwirrung?

Die Einführung in das Thema Dadaismus, zum Beispiel.

Wie sah diese aus?

Da bin ich jeweils vor die Klasse gestanden und habe ein Dada-Gedicht vorgetragen. Da stand nun also einer vorne und plapperte irgendeinen «Seich» zusammen. Das hat meistens funktioniert, um die Aufmerksamkeit der Klasse zu gewinnen.

Wie brachten Sie den Schülerinnen und Schülern ein eher unkonventionelles Thema wie den Dadaismus näher?

Wichtig war die Vorbereitung. Die Herangehensweise an den Stoff war bei jeder Klasse anders. Wenn ich die alten Unterlagen verwendet hätte, wäre ich Gefahr gelaufen, an den Jugendlichen vorbei zu unterrichten. Deshalb war es wichtig, mich mit dem Stoff aus einer neuen Perspektive zu beschäftigen. Natürlich griff ich auf vorhandenes Material zurück, aber die Vorbereitung musste neu anlaufen. Sonst wärs abgedroschen geworden.

Was lehrt der Dadaismus die Jugendlichen fürs Leben?

Dadaismus fördert das kritische Denken, indem er verneint und infrage stellt. Er fördert die eigene Kreativität und die Schreibfreude. Und er sprengt Grenzen, zum Beispiel mit der Sprache. Es kann lehrreich sein, einfach mal etwas zu machen, das völlig ungewohnt ist.

Schule ist oftmals Bildung auf Vorrat. Werden heute die richtigen Fächer unterrichtet?

Ich denke schon, ja.

Gibt es ein Fach, das man trotzdem einführen müsste?

Eine separate Stunde für den Klassenrat wäre hilfreich. Im Stundenplan blieb kaum Platz, um mit der Klasse Organisatorisches oder Themen zu besprechen, die gerade aktuell sind.

Konnten Sie im Verhalten Ihrer Schülerinnen und Schüler über die Jahre eine Veränderung feststellen?

Das würde ich so nicht sagen, nein. Gerade meine beiden letzten Klassen pflegten einen sehr respektvollen Umgang.

Und wie sieht es mit den Eltern aus?

Auch der Kontakt zu den Eltern war in meiner ganzen Karriere gut. Ich habe nie Probleme gehabt.

Nicht ein einziges Mal?

Na gut, vielleicht ist mir mal ein Vater ein bisschen an den Karren gefahren, aber das konnte ich problemlos kontern. Da half wohl auch meine Erfahrung. Das waren allerdings Ausnahmen, ich hatte stets einen sehr guten Elternkontakt, wurde unterstützt und geschätzt.

Welches Gefühl hat nach drei gemeinsamen Jahren mit einer Klasse häufiger dominiert: die Wehmut oder die Erleichterung?

Beide. Einerseits war ich glücklich, dass die Klasse einen guten Abschluss hatte, und andererseits ist mit dritten Klassen vieles sehr eingespielt. Diese Routine habe ich natürlich auch vermisst. Bei einer ersten Klasse brauchte es erst wieder seine Zeit, bis alles lief.

Reichten fünf Wochen Sommerferien, um sich von einer Klasse zu verabschieden und sich auf eine neue einzustellen?

Normalerweise habe ich drei Wochen Ferien gemacht und die letzten beiden Wochen genutzt, um mich auf die neue Klasse vorzubereiten. Mir fiel diese Umstellung innert so kurzer Zeit immer recht schwer. Deshalb bin ich froh, dass nun keine Klasse mehr folgt.

Was kommt stattdessen?

Zuerst einmal mach ich Ferien.

Und dann? Gibt es Projekte, die Sie noch in Angriff nehmen wollen?

Keine speziellen. Ich werde mehr Freunde treffen, Musik machen, zuhause sein. Zeit haben.

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