Ohne Zusatzkurs geht sie leer aus

Die Affoltemer Kindergärtnerin Ursula Stierli kritisiert die geplanten Lohnerhöhungen. Sie hat am Frauenstreiktag für mehr Anerkennung ihres Berufsstands demonstriert. Nun will die Bildungsdirektion die Löhne anheben, doch Ursula Stierli gehört zu jenen 60 Prozent, die nicht von der Neuerung profitieren. Sie ist enttäuscht – und schliesst rechtliche Schritte nicht aus.

Am 14. Juni hat Ursula Stierli in Zürich demonstriert. Für einen Morgen übernahm Ehemann Bernhard Stierli den Chindsgi.<em> (Bild Mohammed Shahin)</em>
Am 14. Juni hat Ursula Stierli in Zürich demonstriert. Für einen Morgen übernahm Ehemann Bernhard Stierli den Chindsgi.<em> (Bild Mohammed Shahin)</em>

Es ging drunter und drüber an jenem Freitagmorgen im Juni, als Architekt Bernhard Stierli für einen Morgen als Aushilfslehrer einsprang. «Zwar bildet der Kindergarten den Start der Volksschule, doch wenn es Ressourcen braucht, ist man sehr zurückhaltend», sagte Ursula Stierli damals – und überliess ihre Klasse für einen Morgen ihrem Gatten, um am Frauenstreiktag für mehr Anerkennung der Kindergartenlehrpersonen zu demonstrieren.

Ressourcen – also mehr Geld – hat die Bildungsdirektion des Kantons Zürich inzwischen in Aussicht gestellt. Am 26. September hat sie den Bericht zur Situation des Kindergartens veröffentlicht. Eine zentrale Massnahme: Kindergartenlehrpersonen sollen im Kanton Zürich in dieselbe Lohnklasse eingereiht werden, wie Lehrpersonen der Primarstufe. Der Haken: Die Lohnerhöhung erhält nur, wer die kombinierte Lehrerausbildung für die Kindergarten- und Unterstufe absolviert hat. Das sind schätzungsweise 40 Prozent der Lehrpersonen. Kindergärtnerinnen, die schon länger im Beruf sind und beispielsweise das Kindergartenseminar absolviert haben, gehen leer aus, weil sie keinen Hochschulabschluss vorweisen können. Stattdessen sollen sie sich mit einer Zusatzausbildung nachqualifizieren können. Wie diese aussieht, hat Bildungsdirektorin Silvia Steiner noch offengelassen.

«Bildung von kleinen Kindern weniger wert?»

Auch Ursula Stierli aus Affoltern geht leer aus. Die 59-Jährige hat das Kindergartenseminar absolviert und arbeitet seit 1981 auf dem Beruf. Für sie ist die Angleichung der Löhne zwar ein Teilerfolg, «denn bis anhin hat es oft den Eindruck gemacht, als sei Bildung von kleineren Kindern weniger wert», sagt sie. Dass ihre jahrzehntelange Berufserfahrung allerdings nicht direkt für die höhere Lohnklasse reicht, enttäuscht die Kindergärtnerin. Für sie ist der Vorschlag der Bildungsdirektion ein weiterer Dämpfer im Streben nach mehr Anerkennung für die Arbeit der Kindergärtnerinnen.

Die Bildungsdirektion erklärte, ihr seien systembedingt die Hände gebunden. Für die Lohnklasse 19 sei im kantonalen Vergütungssystem ein Hochschulabschluss zwingend. Sie hat jedoch angekündigt, die Berufserfahrung bei der Nachqualifikation hoch zu gewichten. Ursula Stierli ist gespannt, wie die neue Regelung umgesetzt wird. Sie ortet die Gründe für diese Minderheitslösung im finanziellen Bereich: Eine Lohnerhöhung erhalten nur knapp 40 Prozent des Personals, der Rest muss sich zuerst nachbilden: «Vermutlich wird darauf spekuliert, dass dazu nur ein Teil der Lehrkräfte gewillt ist.» Allenfalls sei das systembedingt gar nicht anders möglich: «Wie viele Ausbildungsplätze stehen zur Verfügung, und wer bezahlt sie?», fragt sich Stierli. «Falls wir die Weiterbildung selber berappen müssten, liefe das, gerade für ältere Berufsleute, die bald pensioniert werden, auf ein Nullsummenspiel hinaus.»

Höher eingereiht, aber im Alltag froh um Hilfe

Ursula Stierli ist es wichtig zu betonen, dass es ihr nicht um den finanziellen Aspekt geht: «Mich stört nicht die Lohnsumme an sich, sondern das Lohngefälle innerhalb des Primarschulsystems», sagt sie. Im selben Kindergartengebäude in Knonau arbeiten neben Stierli drei weitere Frauen. Zwei davon werden die Lohnerhöhung erhalten, sie und ihre Stellenpartnerin nicht. Diese Regelung könne auch zu Konkurrenz unter der Lehrerschaft führen, gibt sie zu bedenken: «Zum Beispiel dann, wenn sich zwei Kindergärtnerinnen eine Stelle teilen, dieselbe Arbeit machen – aber nur eine vom besseren Lohn profitiert.» Dass die akademische Ausbildung in der Einreihung einen so wichtigen Stellenwert einnimmt, geht für Stierli in eine falsche Richtung: Gerade das praktische Wissen von langjährigen Berufsleuten sei im Alltag häufig gefragt. Durch die neue Regelung könne es passieren, dass jüngere Kolleginnen zwar in der höheren Lohnklasse eingereiht sind, im Alltag jedoch um Ratschläge der altgedienten Kolleginnen froh seien. Es sei schade, wenn es zu solchen Konkurrenzsituationen komme.

Eine 100-Prozent-Anstellung als Kindergärtnerin gibt es nicht

In Ursula Stierlis Empfinden hapert es mit der Anerkennung für die Arbeit der Kindergärtnerinnen und Kindergärtner, seit sie vor 38 Jahren in ihren Beruf eingestiegen ist. Zwar hat sich seither vieles verbessert: Früher sei es nicht einmal vorgesehen gewesen, als Kindergärtnerin am Lehrerkonvent teilzunehmen. Durch das neue Volksschulgesetz seien zwei Kindergarten-Jahre heute obligatorisch, während bis im Jahr 2008 gar keine Kindergartenpflicht bestand.

Das Problem mit der 88-Prozent-Anstellung hingegen besteht noch immer. Als Kindergärtnerin ist es bis heute nicht möglich, in einem 100-Prozent-Pensum zu arbeiten, weil dafür 28 Lektionen pro Woche nötig wären – im Kindergarten sind es 24. «Das ist auch deshalb störend, weil die tatsächlich geleistete Arbeitszeit häufig einem 100-Prozent-Pensum entspricht», sagt Ursula Stierli. Die Vorbereitung der Lektionen sei aufwändig, und auch der Unterricht werde immer anspruchsvoller: Weil sich der Stichtag für die Einschulung durch das HarmoS-Konkordat per 1. August 2009 jährlich um einen halben Monat nach hinten verschoben hat, sind die Jüngsten inzwischen knapp vier Jahre alt. Umso wichtiger, sagt Stierli, wäre der Unterricht in Halbklassen oder in Doppelbesetzung der Lehrkräfte – sogenannte Teamteaching-Lektionen. Doch auch diese fallen im Kindergarten tiefer aus als in der Primarschule: Im Kindergarten sind vier Teamteaching-Lektionen pro Woche vorgesehen, in der Unterstufe sind es zehn.

Die Vernehmlassung für den Vorschlag der Bildungsdirektion endet Mitte Januar 2020. Der Vpod hat eine Petition lanciert, um sich gegen die Schlechterstellung der älteren Berufsleute zu wehren. Auch Ursula Stierli sammelt fleissig Unterschriften. Sollte sie sich tatsächlich aufwändig und auf eigene Kosten nachqualifizieren müssen, schliesst sie juristische Massnahmen nicht aus: «Ich weiss nicht, ob ich das auf mir sitzen lassen würde.»

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