Vom Geflüchteten zum Stellvertretenden Chefarzt

Als pfeilschneller und technisch versierter Angreifer bei den ­Senioren 40+ des FC Affoltern lehrt Sherif Thaqi gegnerische ­Abwehrreihen das Fürchten. Im Portrait erzählt er von seiner abenteuerlichen Flucht aus dem Kosovo und der nach etlichen ­überwundenen Hindernissen letztlich gelungenen Integration.

Sherif Thaqi, Leitender Arzt im Spital Affoltern. (Bild zvg.)
Sherif Thaqi, Leitender Arzt im Spital Affoltern. (Bild zvg.)

«Am schlimmsten war es damals, als wir nachts aus einem Boot im offenen Meer ins kalte Wasser springen und ans Ufer schwimmen mussten. Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich mich daran erinnere», erzählt Sherif Thaqi von seiner abenteuerlichen Flucht im Jahre 1998 aus dem Kosovo. Zusammen mit einem Cousin und einem weiteren Verwandten gelangte der damals 25-Jährige auf einem illegalen Fährschiff von Albanien nach Italien. Allein für die Überfahrt auf dem adriatischen Meer zahlte er etwa das Zehnfache eines monatlichen Lehrerlohns im Kosovo. Vater und Grossvater – «Er war der Chef» – hatten den hohen Betrag zusammengespart. Eine Flucht auf einem Gummiboot wäre zwar billiger, aber viel zu gefährlich gewesen. Danach führte ihn der hindernisreiche Weg über Frankreich nach Como, wo die Flüchtlinge in einer Kirche notdürftig untergebracht wurden, und anschliessend in die Schweiz, ins Aufnahmezentrum Kreuzlingen. Schliesslich wohnte er rund elf Monate im Lilienberg, dem Asylzentrum für junge Erwachsene.

Seit 2013 arbeitet der einstige Flüchtling als leitender Arzt und Chefarzt-Stellvertreter am Bezirksspital ­Affoltern und gibt zudem sein medizinisches Wissen als Dozent an der ­Universität Zürich zukünftigen Ärzten weiter. Doch wie ist ihm dieser märchenhaft anmutende Aufstieg geglückt?

Kindheit und Jugend im Kosovo

1973 wird Sherif Thaqi in Qifllak, einem kleinen Bauerndorf im Südwesten vom Kosovo, geboren. Der arbeitsame Vater, ein Bauer, und die ebenso fleissige Mutter, eine Hausfrau, ziehen acht Kinder auf. Die Familie ist nicht auf Rosen gebettet, trotzdem verlebt Sherif eine weitgehend ungetrübte Kindheit, geprägt von Spielen im Garten und in der näheren Gegend, vor allem Strassenfussball, mit vielen Kindern, aber auch häuslichen Pflichten. Bis zu 32 Personen wohnen zeitweilig in der Grossfamilie zusammen, darunter Grosseltern und zahlreiche Onkel und Tanten.

Äusserst bescheiden sind die Lebensbedingungen und zudem herrscht grosse politische Unsicherheit. Die Gross­familie habe Schutz und Sicherheit verliehen, so Thaqi. Nach acht Jahren Primar- und Sekundarschule in seinem Heimatort folgt die Ausbildung zum Krankenpfleger und der Besuch des Gymnasiums, das der strebsame junge Mann mit der Matura abschliesst. Seine unermüdlich arbeitenden Eltern hätten ihm und einigen seiner Geschwister sogar eine akademische Ausbildung ermöglicht, ergänzt der heutige Arzt voller Dankbarkeit. Zwei seien Tierärzte geworden, ein weiterer Bruder verfüge über einen Master in Wirtschaft und eine Schwester in Agrarwirtschaft.

Auch Sherif Thaqi steht 1992 vor dem Studium der Medizin, als die politische Situation die Verwirklichung seines Wunsches jäh verzögern sollte. Zuerst gilt es, den obligatorischen, ein Jahr dauernden Militärdienst zu absolvieren. Einen militärischen Einsatz im Kriegsgebiet von Bosnien/Kroatien! Doch inzwischen haben sich die Albaner im Kosovo durch ein Referendum als unabhängig erklärt und weigern sich deshalb, für Ex-Jugoslawien in den Krieg zu ziehen. Für Thaqi bedeutet diese Weigerung jedoch, dass er nunmehr im Kosovo nicht mehr studieren darf. So sieht er sich gezwungen – zusammen mit einem Kollegen, der heute dem Ärztezentrum Nürnberg vorsteht – nach Albanien zu ziehen, wo er an der Universität von Tirana von 1992 bis 1998 ­Medizin studiert. Doch noch immer türmen sich hohe Klippen vor dem ambitiösen Jungarzt auf. Inzwischen hat sich die politische Lage weiter zu­gespitzt, der Kosovo-Krieg ist ausge­brochen.

Eine Flucht mit Umwegen

Trotz Medizin-Studiums sind die beruflichen Perspektiven für Thaqi düster, Arbeitslosigkeit droht. Nun entschliesst er sich, in die Schweiz zu fliehen. Wie manche seiner Landsleute kennt er viele, die in der Schweiz leben und von diesem Hort des Friedens und der Sicherheit schwärmen. Zudem hat er während seines Medizinstudiums zwei Monate bei einem Onkel in München, nahe der Schweiz, verbracht. «Ich wusste zwar nicht, was mich erwartet, doch eine Zukunft in der Schweiz, das war eine grosse Motivation für mich und andere Auswanderungswillige», untermauert Thaqi. Nun, auch die vielgepriesene Schweiz sollte sich nicht als Schlaraffenland erweisen. Nach elf Monaten Aufenthalt zwischen 1998 und 1999 kehrt er ernüchtert in sein Heimatland zurück. Die Anerkennung des Arztdiploms, das er in Albanien erworben hat, bleibt ihm versagt. Inzwischen ist der Kosovo-Krieg beendet und der junge ­Mediziner fühlt Verantwortung seiner Herkunftsfamilie und seinem Land gegenüber. So schliesst er seine aus politischen Gründen abgebrochene Facharztausbildung ab, schliesst eine Ehe, aus der vorerst zwei Kinder hervorgehen.

Trotz privatem Glück – mit 300 Euro im Monat für die inzwischen vierköpfige Familie, dazu die weiterhin schwankende politische Lage – hat sich der junge Familienvater seine Zukunft nicht so vorgestellt! Zum zweiten Mal, jetzt unter weniger dramatischen Umständen, stattdessen jedoch mit der ganzen Familie, beschliesst er seine Heimat zu verlassen. Nun für immer!

Da er als Flüchtling in der Schweiz Deutsch gelernt hat, sucht er übers Internet eine Stelle als Arzt in seinem Traumland. Doch erneut erhalten seine Hoffnungen einen Dämpfer. Die Schweiz als Nicht-EU-Land bietet ihm, der nicht über die EU-Staatsbürgerschaft verfügt, keine Möglichkeit seinen erlernten Beruf auszuüben. So probiert er es in Deutschland. Einige Einladungen zu Vorstellungsgesprächen folgen. Und tatsächlich – im Bundesland Hessen erhält er eine Anstellung. «Es ist 2008/2009 das erste Mal gewesen, dass jemand aus Kosovo direkt eine Anstellung als Arzt erhalten hat», vermerkt Thaqi mit berechtigtem Stolz. Damit sein Diplom als Arzt anerkannt wird, muss er in Frankfurt am Main eine sogenannte Gleichstellungsprüfung bestehen. Und auch die Facharztausbildung für Innere Medizin in München schliesst er mit Bravour ab. Deutschland jedoch ist nur die ­Zwischenetappe auf dem Weg ins Traumland.

Endgültig in der Schweiz

So kehrt Sherif Thaqi, 14 Jahre nach seinem Aufenthalt als Flüchtling, diesmal als promovierter Facharzt mit mittlerweile fünfköpfiger Familie, dahin zurück. Nur wenige hundert Meter vom MNA-Zentrum Lilienberg entfernt befindet sich seine neue Arbeitsstelle im Spital Affoltern. Nachdem mit dem Staatsexamen auch die letzte Hürde bewältigt ist, stehen dem inzwischen 40-Jährigen alle Türen offen.

Wie hat er die Schweiz und Deutschland erlebt? Ist er Vorurteilen gegenüber seiner Herkunft begegnet? In beiden Ländern sei er stets auf Respekt vonseiten der Patienten wie auch aus Ärztekreisen gestossen, Diskriminierung habe er nie gespürt. Seit rund sieben Jahren lebt er nun mit seiner Familie in der Schweiz und empfindet tiefe Dankbarkeit, dass es ihm vergönnt ist, in ­einem Staat zu leben, in dem soziale und berufliche Sicherheit herrscht. Dass die Anforderungen und die Verantwortung in seinem Beruf hoch seien, das gehöre dazu, findet er, denn der hohe Lebensstandard in diesem Land beruhe auf viel Arbeit und genauer Leistung. Noch verfügt seine Familie nur über die Niederlassungsbewilligung C. Die Schweizer Einbürgerung zu erlangen, das gehöre zu seinen Träumen, ergänzt Thaqi. Trotz erfolgreicher Integration fühlt er sich weiterhin mit seiner Heimat verbunden. Regelmässig besucht er seine Familie dort und unterstützt sie finanziell.

Welche Unterschiede erkennt er zwischen dem Kosovaren und dem Schweizer? «Ein Schweizer achtet den Staat, Gesetze sind keine leeren Floskeln, sondern werden auch durchgesetzt. Sicherheit ist ein kostbares Gut, Arbeits- und Kommunikationskultur werden gepflegt», davon ist er überzeugt. Für den Kosovaren hingegen ist der Staat «ein Feind, eine Goldmine, die es auszubeuten gilt.» Auf diesem Gedankengebilde entstünden Korruption und Kriminalität. Viele seiner Landsleute hätten nicht verstanden, dass nur ein starker Staat Wohlstand für alle garantiere. Als Beispiel nennt Thaqi das staatliche Gesundheitssystem. Das sei dermassen heruntergekommen, dass die privilegierten Politiker sich im Ausland behandeln liessen, anstatt sich um Reformen im eigenen Land zu bemühen.

Sherif Thaqi hat es – aller Widrigkeiten zum Trotz – geschafft! Beispielhaft steht er für Menschen, denen mit viel Einsatz, Willen und Können die Integration geglückt ist. Dabei spielte, abgesehen vom Beruf, der Fussball eine Schlüsselrolle für die gelungene Eingliederung.

Historischer Exkurs und Gegenwart

Bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren kamen zahlreiche Gastarbeiter, auch aus dem Kosovo, in die Schweiz und viele von ihnen zogen ab den 80er-Jahren ihre Familien nach, nachdem sich die politische Lage in ihrer Heimat zugespitzt hatte. Im Kosovo-Krieg von 1998/99 mussten fast 1.5 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Heute ­leben rund 200000 Kosovaren in der Schweiz, wobei unser Land, gemessen an der Bevölkerungsgrösse, am meisten Kosovaren aufgenommen hat.

2008 erfolgte die Unabhängigkeit von Kosovo, doch nach wie vor sind die wirtschaftlichen Schwierigkeiten enorm. So betrug 2016 die Arbeitslosigkeit 27.5 Prozent. Jeder dritte Kosovare verfügt über ein Einkommen von lediglich 1.37 Euro pro Tag. Korruption und organisierte Kriminalität sind weiterhin verbreitet. Und noch immer benötigen Kosovaren ein Visum, um in den Schengenraum einzureisen.

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