Die Jugend von damals erinnert sich

Die Sekundarlehrerin Erika Bigler hat ein digitales Schulbuch entwickelt. Mit ihrem kosten- losen Lehrmittel möchte sie den Zweiten Weltkrieg durch Fakten und Geschichten für Jugendliche erleb- und greifbar machen.

Erika Bigler möchte den Jugendlichen mit ihrer Website den Zweiten Weltkrieg aus der Sicht der damaligen Schweizer Jugend näherbringen. (Bild Livia Häberling)
Erika Bigler möchte den Jugendlichen mit ihrer Website den Zweiten Weltkrieg aus der Sicht der damaligen Schweizer Jugend näherbringen. (Bild Livia Häberling)

Eines Tages, sagt Erika Gideon, als die anderen Kinder mal wieder über das Christkind redeten, da habe sie in der Schule etwas klarstellen wollen. Klarstellen, dass auch ihre jüdische Familie im Dezember ein Fest feiere, bloss halt nicht Weihnachten. «Zu mir kommt übrigens das Chanukka-Männchen und bei uns gibt es auch Lichter», habe sie gerufen, den Kerzenständer aus der Vitrine geholt und ihn mit in die Schule gebracht. «Warum musstest du herumerzählen, dass du Jüdin bist?!», schimpften die Eltern später, und die Mitschülerinnen waren verwirrt: «Es ist doch gar nicht möglich, dass du Jüdin bist. Du hast ja eine gerade Nase!»

Solche und andere Geschichten hat Erika Gideon, geboren 1932, in den Jahren vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt. Nun jährte sich das Kriegsende am 8. Mai zum 75. Mal, und Erika Gideon teilt ihre Erinnerungen auf www.ch-jugend2wk.ch in mehreren ­Videosequenzen mit allen, die sich für ihre Geschichte interessieren.

«Wann kommt der Zweite Weltkrieg dran?»

Möglich gemacht hat das Erika Bigler. Die 56-Jährige arbeitet in Mettmenstetten als Sekundarschullehrerin. Dort unterrichtet sie unter anderem das Fach Geschichte, das gemäss Lehrplan 21 neu «Räume, Zeiten und Gesellschaften» heisst und auch die Geografie miteinschliesst. Immer wieder habe sie im Unterricht festgestellt, dass ihre Schülerinnen und Schüler an Informationen und Geschichten rund um den Nationalsozialismus grosses Interesse zeigen. «Manchmal fragten sie bereits in der ersten Sekundarstufe: ‹Wann kommt der Zweite Weltkrieg dran?›»

Gemäss Lehrplan wäre das gegen Ende des dritten Jahres der Fall, allerdings habe sich in der Praxis gezeigt, dass das Thema in manchen Klassen aus Zeitgründen nur noch rudimentär gestreift werden könne – wenn überhaupt. Zudem, so vermutet Erika Bigler, stelle der brutale und tragische Stoff für manche Lehrperson eine besondere Herausforderung dar: «Es braucht Überwindung, sich mit diesen Bildern und ­Dokumenten auseinanderzusetzen.»

Erika Bigler, die selbst keine jüdischen Wurzeln hat, beschäftigt sich seit Jahren mit der Jüdischen Geschichte, mit Antisemitismus und Rassismus. «Bei meinen Recherchen habe ich festgestellt, dass die Stimme der Schweizer Jugend fehlt. Man erfährt kaum, wie sie die Zeit des Zweiten Weltkriegs erlebt hat», sagt sie. Dann, nachdem sie mit ihren Schülerinnen und Schülern deren Grosseltern interviewt habe, da sei ihr die Idee gekommen, die Eindrücke und Erlebnisse unterschiedlicher Zeitzeugen für den Unterricht zu dokumentieren. Dabei sei es ihr nicht darum gegangen, ein neues kommerzielles Lehrmittel zu schaffen: «Mir war es ein Anliegen, Zeitzeugnisse von Kindern und Jugendlichen der Kriegsgeneration aus der ganzen Schweiz aus ihrer Perspektive an die zukünftige Generation in einer modernen Form weiterzugeben.»

Gegen das Vergessen: Zehn Zeitzeugen erinnern sich

Hunderte Stunden investiert Erika ­Bigler, die 2010 einen Master in politischer Bildung abgeschlossen hat, in ihr Projekt. Sie trägt historisches Material zusammen, wertet es aus, tauscht sich mit anderen Fachpersonen aus; so zum Beispiel mit Historikern oder Geschichtsdidaktikern. Sie kontaktiert Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die bereit sind, von ihren Erlebnissen zu erzählen, führt Gespräche – und macht sich auf die Suche nach Gönnern und Partnern, die sie in Stiftungen findet. Für die Aufzeichnung der Videosequenzen und die Programmierung der Website holt sie sich Unterstützung bei einer Agentur.

2018 kann Erika Bigler ihr Projekt bei den Internationalen Study Days an der Pädagogischen Hochschule in Lausanne, in Kooperation mit der International Holocaust Remembrance Alliance (Ihra), präsentieren. Ein Jahr darauf, im Juni 2019, testet sie ihr digitales Buch erstmals im Unterricht. Dort sei das Lehrmittel gut angenommen worden, sagt Erika Bigler. Auf ihrer persönlichen Website hat sie einige Rückmeldungen aufgelistet: «Eine tolle Seite, weiter so!», oder «Super Unterricht! Es war sehr lehrreich und informativ. Dieser Morgen hat mir sehr Spass gemacht!» ist dort zu lesen.

So ist innerhalb von zwei Jahren schliesslich die interaktive Website «Schweizer Jugend im Zweiten Weltkrieg» entstanden. Dort berichten Rita und Maggy, Myrthe und Margrit, aber auch Bruno oder Bernhard in mehreren Kurzvideos von ihren Erlebnissen in Familie und Schule während der Kriegszeit. Acht Frauen und zwei Männer aus allen vier Sprachregionen kommen zu Wort. Ihre persönlichen Eindrücke werden durch Kurztexte und Video-, Bild- und Tonmaterial aus Archiven ergänzt. Unterteilt sind all diese Informationen in 26 Kapitel, in jedes einzelne können die Nutzerinnen und Nutzer separat einsteigen. «So können die Jugendlichen die Themen nach ihrem Interesse und im eigenen Tempo erforschen», sagt
Erika Bigler. Ihr digitales Schulbuch, das allen Bildungsinstitutionen und Interessierten kostenlos zur Verfügung steht, sieht sie als Ergänzung zu den bereits bestehenden Lehrmitteln.

Das digitale Buch soll weiter wachsen

In einem nächsten Schritt möchte Erika Bigler das digitale Buch ausbauen. Dabei denkt sie an Videos mit weiteren Zeitzeugen, zum Beispiel mit Holocaust-Überlebenden, die den Weg in die Schweiz gefunden haben. Auch ist geplant, alle Interviews ins Französische zu transkribieren.

Zunächst jedoch soll sich ihr Buch im Unterricht an Sekundarschulen und Gymnasien etablieren. Vor der Corona-Pandemie seien digitale Tools im Verhältnis zu den analogen Lehrmitteln noch eher zurückhaltend genutzt worden. In den vergangenen Wochen habe sich das geändert. Trotzdem konnte Erika Bigler ihr Online-Lehrmittel seit dessen offizieller Herausgabe Anfang Mai noch nicht einsetzen: Seit dem Lockdown und bis voraussichtlich Anfang Juni beschränkt sich der Unterricht vor allem auf die Hauptfächer Deutsch, ­Mathematik, Französisch und Englisch. Der Geschichtsunterricht muss warten, vorerst. Aber danach erzählen Maggy,
Bruno und Rita von ihren Erinnerungen. Und natürlich erzählt Erika Gideon vom Chanukka-Männchen.

 

Link zum digitalen Buch: www.ch-jugend2wk.ch

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