«Affoltern ist jetzt meine Wellness-Oase»
Am 25. Oktober hatte "Seewadel"-Leiterin Verena Feller ihren letzten Arbeitstag. Im Interview spricht sie über den Neubau, Corona – und Baumnussöl

Nach sieben Jahren als Leiterin endet morgen Mittwoch Ihr Einsatz für das Zentrum «Seewadel»; wie fühlen sich diese letzten Tage für Sie an?
Verena Feller: Ich habe die Leitung bereits Ende August an Jino Omar abgegeben und ging anschliessend für drei Wochen in die Ferien. Seit ich zurück bin, merke ich, dass ich lockerer bin. Ich trage die Verantwortung nicht mehr und hatte Zeit, um aufzuräumen und abzuschliessen. Das gibt mir ein sehr gutes Gefühl. Wenn ich Ende August hätte gehen müssen, wäre ich sehr gestresst gewesen.
Gibt es für Sie noch eine Art «letzte Amtshandlung», bevor Sie am Mittwoch die Schlüssel abgeben?
Ja, (sie lacht). Eigentlich hätte ich heute meinen letzten Arbeitstag gehabt. Doch weil sich für morgen Vormittag noch Ruth Früh vom Bezirksrat für eine Visitation angemeldet hat, bin ich dort noch mit dabei. Der offizielle Abschied mit Bewohnerinnen und Bewohnern, Mitarbeitenden, dem Stadtrat und weiteren dem «Seewadel» nahestehenden Personen folgt dann im Januar.
Sie haben von 2011 bis 2012 bereits interimistisch für das «Seewadel» gearbeitet. Wie kam es, dass Sie im September 2016 nach Affoltern zurückgekehrt sind?
Daran erinnere ich mich gut: Im Frühling 2016, ich war gerade in Südfrankreich in den Ferien, rief mich Stefan Trottmann an und sagte: «Wir brauchen dich.» Der Geschäftsleiter hatte nach anderthalb Jahren gekündigt. Davor war die Bettenbelegung zusammengebrochen, nachdem im Jahr 2014 die «Senevita Obstgarten» eröffnet hatte. Der Gemeinderat suchte also eine Leitung, die den Betrieb interimistisch führte, bis klar war, wie und ob es mit dem «Seewadel» weitergehen würde. Da war für mich klar: Ich gehe wieder nach Affoltern.
Wie nahmen Sie die Erwartungshaltung Ihnen gegenüber bei Ihrem Amtsantritt wahr?
Es gab zwei Dinge: Der offizielle Auftrag war, die Füsse stillzuhalten und den Betrieb für ein Jahr aufrechtzuerhalten, bis die notwendigen Entscheide getroffen waren. Für mich war allerdings klar, dass es ein neues «Seewadel» geben musste. Die Schliessung sahen der damalige Gemeinderat Hermann Brütsch und ich nicht als Option.
Wie ist es Ihnen gelungen, im «Seewadel» anzukommen und nebenbei dieses Grossprojekt voranzutreiben?
Ich war für die Idee einfach Feuer und Flamme. Hinzu kommt, dass ich eher der Typ bin, um etwas zu bewegen, statt abzuwarten, bis entschieden wird.
Im November 2018 teilte die Stadt mit, dass sie die Leistungsvereinbarung mitder Spitex Knonaueramt kündigt und per 1. Dezember 2019 ihre eigene Spitex aufbaut. Was bedeutete dieser Entscheid für Ihre Arbeit der nächsten Monate?
Der Entscheid löste ziemlich viel Wirbel aus. Und führungsmässig und organisatorisch fast die grössere Herausforderung als die Neubau-Planung.
Weshalb?
Einerseits musste ich mich ins Thema Spitex einarbeiten und nebenher alles aufgleisen, damit die Mitarbeitenden wie versprochen übernommen werden konnten, andererseits war es auch wichtig, sie mental abzuholen, damit sie überhaupt im «Seewadel» arbeiten wollten. Es gibt das Cura-Viva-Modell der integrierten Versorgung, daran habe ich mich angelehnt und gemerkt: Eigentlich geht es in die richtige Richtung. Es war aber schon eine harte Zeit.
Kamen Zweifel bei Ihnen auf, ob Sie den Entscheid mittragen können?
(Sie überlegt). Der Entscheid hat mich aufgerüttelt, aber gezweifelt habe ich nicht.
Der Entschied fiel aus Sparüberlegungen. Doch in der Bevölkerung sorgte er auch für Kritik. Wie viel von diesem Unverständnis kam bei Ihnen an?
Da drang schon Kritik durch. Ich habe versucht, Gästen oder betroffenen Mitarbeitenden zu vermitteln: Das war nicht die Entscheidung des «Seewadel», und wir können den Beschluss nicht mehr rückgängig machen, doch wir können das Beste daraus machen.
Am 9. Februar 2020 sagte Affoltern Ja zum «Papillon» und zum Objektkredit von knapp 44 Millionen. Ein Meilenstein für Sie?
Ja! Wir alle haben mitgefiebert und waren sehr erleichtert, als die Resultate vorlagen.
Bald darauf hatte das Corona-Virus die Welt im Griff. Wie ist Ihnen die Pandemie-Zeit in Erinnerung geblieben?
Corona kam noch obendrauf, zu allem anderen, das bereits im Gang war. Das war rückblickend etwas zu viel. In den Alters- und Pflegeheimen führte die Zeit gewissermassen zu einer Selektion; es sind viele Geschäfts- und Heimleiter ausgestiegen. Man war so im Fegefeuer zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern, Angehörigen und Mitarbeitenden. Es galt, Entscheide der Gesundheitsdirektion umzusetzen, die ich als Privatperson vielleicht nicht so umgesetzt hätte.
Konkret?
Ein Beispiel war der Besuchsstopp. Das war für mich sehr schwierig. Hinzu kamen Diskussionen mit Angehörigen, die sich nicht an die Massnahmen halten wollten. Und immer am Freitagmittag gab die Gesundheitsdirektion die neuen Regelungen heraus. Danach mussten vor dem Wochenende noch alle informiert werden.
Im «Seewadel» durften die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Etage eine Zeit lang nur noch in Begleitung verlassen. Einige sagten wortwörtlich, sie fühlten sich eingesperrt. Wie denken Sie heute über diese Massnahme?
Ich musste mich an die Vorschriften halten, musste zu dem Zeitpunkt nach bestem Wissen und Gewissen zur Sicherheit der Bewohnenden handeln und konnte nicht einfach sagen «ihr könnt mich mal». Aber natürlich hat es mich wahnsinnig gestresst. Ich fühlte mich machtlos.
War es richtig, diese betagten Leute so wegzusperren?
Diese Frage war auch Thema an einem Angehörigen-Forum. Ich sagte, ich könne nicht ausschliessen, dass das wieder passiert, wenn die gesetzlichen Vorschriften es verlangen. Wobei mittlerweile sowohl der Branchenverband Curaviva als auch Vertreter des BAG gesagt haben, dass das der grösste Fehler gewesen sei.
Denken Sie das auch?
Ja.
Ein Neubau bei laufendem Betrieb, eine Spitex-Integration, eine Pandemie. Die Herausforderungen für Sie nahmen nicht ab. Gab es Momente, in denen Sie zweifelten, ob das alles zu schaffen sei?
Die hat es immer wieder gegeben. Gerade während der Pandemie hatte ich ja kaum mehr ein freies Wochenende wegen der neuen Regelungen. Meistens erhielten die Angehörigen die Post am Samstag, danach kamen Fragen auf, für die wir erreichbar sein mussten. Hinzu kam die Spitex-Integration, ein «unfriendly takeover», wenn man so will. Eine solche Häufung grosser Projekte hatte ich vorher tatsächlich nicht.
Wo fanden Sie wieder Kraft, um das alles zu stemmen?
Nicht nur von den Mitarbeitenden, sondern rundherum habe ich für das Neubauprojekt viel Unterstützung gespürt. Ich denke da an Irene Enderli, die sich voll engagiert hat, aber auch an ganz viele andere, die Leserbriefe geschrieben oder ihre Hilfe angeboten haben. Auch während Corona gab es neben dem ganzen Schwierigen viel Positives; Leute, die für die Bewohnerinnen und Bewohner einkaufen gingen, die Briefe vorbeibrachten. Die Vernetzung und das Gefühl des Getragenwerdens im Säuliamt ist für mich etwas sehr Spezielles.
Im Privaten sind meine Grosskinder eine Hauptquelle; wenn ich mit ihnen zusammen bin, habe ich keine Zeit, an den Betrieb zu denken. Ich bin einfach das «Grosi» und nichts anderes. Zudem bin ich oft in der Natur, gehe wandern und velofahren, das gibt mir Energie. Oder (sie lacht), auch mal «äs Gläsli Wii».
Am 13. Mai 2023 wurde der «Seewadel»- Neubau eingeweiht. Was bedeutete dieser Tag für Sie?
Stress (sie lacht)! Es kamen so viele Leute! Und so viele, die mitgefiebert hatten und sich nun mit uns freuten, dass es geschafft war. Das war schön!
Ende 2022 gab die Stadt bekannt, dass Sie im Herbst 2023, mit 62 Jahren, frühzeitig in Pension gehen. Was hat Sie zu diesem Entscheid bewogen?
Ich habe immer schon gesagt: Wenn wir im Neubau eingezogen sind, lasse ich mich frühpensionieren. So war es dann auch.
War der «Seewadel»-Neubau das grösste Projekt Ihrer Karriere?
Von den Franken-Beträgen her bestimmt (sie lacht).
Wenn Sie das «Seewadel» morgen verlassen, sind Sie eine Pensionärin. Wie wird Ihr neues Leben aussehen?
Im vergangenen Oktober kam ich wie die Jungfrau zum Kinde zu einer Baumnuss-Lohnpresse, weil der bisherige Besitzer aufhören musste. Also presse ich im Herbst- und Winterhalbjahr jetzt hobbymässig Baumnuss-Öl. Dieses Angebot möchte ich nun ausbauen. Allenfalls werde ich mit einem Kleinpensum auch wieder in der Projektleitung tätig sein. Und: Ich habe früher Reisen nach Rumänien angeboten, weil ich dort drei Jahre gelebt hatte. Möglicherweise lasse ich das wieder aufleben.
Sie wohnen im Kanton Bern. Wird man Sie trotzdem noch ab und zu im Säuliamt antreffen?
Ja, ich sage immer: Affoltern ist jetzt meine Wellness-Oase! (Sie lacht.) Ich habe meine Masseurin, meine Kosmetikerin, meine Shiatsu-Therapeutin und meine Coiffeuse hier. Ich werde also regelmässig zurückkehren und ab und zu im «Seewadel»-Restaurant anzutreffen sein. Als Gast.