Auf und davon
Wieso der Obfelder Ruedi Häberling das Säuliamt vor 65 Jahren verlassen hat
Wie wird man 93 Jahre alt? Der angesprochene Exil-Säuliämtler Ruedi Häberling muss über die Frage lachen und entgegnet: «Nicht dass Sie jetzt glauben, wir hätten nie über die Stränge geschlagen. Wenn ein Fest war, haben wir gefestet. Daneben haben wir aber auch eine Familie gegründet, uns weitergebildet und viel gearbeitet.» 1932 geboren, hat Häberling seine ersten Lebensjahre in Obfelden verbracht. Nicht ohne Stolz berichtet er, dass sein Ur-Ur-Grossvater Heinrich Häberling als Kommandant der siegreichen Landbevölkerung 1804 im Bockenkrieg mitgekämpft hatte. Noch heute zeugt ein Denkmal in Affoltern vom Konflikt der Stadt mit der Zürcher Landbevölkerung.
Auf seine Art war auch Ruedi Häberling in seiner Jugend ein Aufmüpfiger, der nicht auf den Mund gefallen war. Kein Wort verliert er über die Entbehrungen, die es in der Kriegszeit gegeben hat. Als ob es gestern gewesen wäre, erzählt er von der Generalmobilmachung, die ein Bekannter aus dem Musikverein auf dem Velo mit einer Trompete im Dorf verkündet hat. Die Familie lebte damals in einer Vierzimmer-Fabrikwohnung der Seidenweberei Stehli im Unterdorf. «Mein Vater musste in den Aktivdienst einrücken. Ich bin den öffentlichen Küchen nachgefahren, um das übrig gebliebene Essen einzusammeln. Daneben bearbeiteten wir noch fünf Aren Garten, in dem wir Kartoffeln und Stangenbohnen angepflanzt haben.» Gegen Kriegsende habe man nachts die fliegenden Festungen der Amerikaner mit ihren dröhnenden Propellermotoren gehört, auf ihrem Weg über die Schweiz Richtung Schwarzwald und Bodensee, um die dortige Infrastruktur zu bombardieren.
Traumberuf Metzger, Lehrberuf Maler
Prägender für ihn persönlich war jedoch, dass er jeden Samstag als Ausläufer für die Obfelder Metzgerei Kummer, mit deren Geschäftsinhaberpaar er sich prächtig verstand, in der Region unterwegs war. Mit dem Velo verteilte er die Fleischprodukte auf den Bauernhöfen, die die Tiere geliefert hatten. Da er schon damals ein guter Verkäufer gewesen sei, gab es «stets ein gutes Trinkgeld oder Fressalien, die zu Hause sehr willkommen waren». Für Häberling war deshalb klar, dass er später selbst Metzger werden wollte.
Doch die Familie hatte andere Pläne für den jungen Mann, der gerne noch das neunte Schuljahr besucht hätte, was damals aber noch keine Pflicht war. «Nach acht Jahren Schulzeit liess ich mich dazu ‹überreden›, bei meinem Onkel Jakob Weinmann in Mettmenstetten eine Lehre als Maler anzutreten», erinnert sich Häberling. Keine besonders glückliche Zeit, die der Teenager einen Monat vor seinem 15. Geburtstag begann: «Mein Onkel hielt mich stets klein und redete mir ein, wie dumm ich mich anstelle. Beinahe hätte ich es selbst geglaubt.» Das für zwei Franken Lohn pro Woche plus freie Kost und Logis.
Als Zweitbester des Kantons schloss er schliesslich die dreieinhalbjährige Lehre ab. «Zum ersten Platz hatte mir lediglich eine Zehntelnote gefehlt», so Häberling, der kurz darauf eine Stelle als Maler in Zürich antrat. «Das war eine wunderbare Lebensphase. Ich schrieb mich für Kurse an der Kunstgewerbeschule ein, war in der Jungmalervereinigung und turnte zweimal die Woche im TV Mettmenstetten. In dieser Zeit lernte ich auch meine spätere Frau Edith kennen, eine Tochter von Otto Schenk, der damals sein Spenglerei- und Sanitärgeschäft in Affoltern hatte.»
Schwieriges Verhältnis zum Lehrmeister, seinem Onkel
Vier Jahre später merkte auch Onkel Jakob, wie tüchtig sein Neffe war. «Er bekniete mich, ich solle doch ins Geschäft nach Mettmenstetten zurückkommen, und ich liess mich tatsächlich erweichen – obwohl wir schon während der Lehre oft nicht gleicher Meinung waren.» Da er gleich vis-à-vis dem Geschäft an der Mettmenstetter Bahnhofstrasse zusammen mit Edith in der Wohnung seines Onkels hauste, sei er quasi zum Mädchen für alles geworden, das 24 Stunden am Tag abrufbar war. «Mit meinem privaten Motorrad habe ich Aufträge im halben Kanton ausgeführt.» Zum endgültigen Bruch kam es, weil Ruedi Häberling irgendwann eine Entschädigung von fünf Rappen pro Kilometer für die geschäftliche Nutzung seines Motorrads forderte. «Mein Onkel willigte zähneknirschend ein, kündigte aber kurz darauf an, dass er den Mietzins meiner Wohnung zu erhöhen gedenke. Da platzte mir der Kragen.»
Noch am gleichen Tag habe er sich auf eine Stellenausschreibung im «Tages-Anzeiger» beworben. In Balsthal suchten die Gebrüder von Burg einen Maler-Vorarbeiter – und fanden in Häberling den gewünschten Mann. Ruedi und Edith Häberling, die beiden hatten 1956 in Mettmenstetten geheiratet, zogen bald darauf nach Balsthal im Kanton Solothurn. «Ich nahm mir vor, mich künftig nur noch aufs Berufliche zu konzentrieren. Da lief mir in Balsthal ein Kollege aus der Kunstgewerbeschule über den Weg, der Kassier im TV Balsthal war.» Wieder liess sich Häberling überreden. Er trat in den TV Balsthal ein und wurde Jugendriegenleiter, absolvierte später den Oberturnerkurs und machte das Brevet. Derweil seine Frau den Laden zu Hause schmiss. Wie hat sie auf das grosse Engagement ihres Mannes reagiert? «Ich dürfe abends schon mal zu Hause bleiben», habe sie immer mal wieder eingeworfen. Wenn er die Wochenenden ins Feld führte, wiegelte sie ab: «Am Samstag bist du im Garten und am Sonntag an irgendeinem Turnfest engagiert.»
Der Karrieresprung erfolgte im Militär
Die nächste Wende im Leben von Häberling ereignete sich im Militär. «Ich absolvierte die Rekrutenschule als Gebirgsschütze, verletzte mich jedoch bei einem Unfall. Das ermöglichte mir den Wechsel zu den Motorfahrern bei der neu gegründeten PAK(Panzerabwehrkanone)-Einheit.» Er sei Motorrad-Meldefahrer gewesen, der morgens und abends von Bataillon zu Bataillon gefahren sei, um die Rapporte einzusammeln und weitere Meldedienste zu leisten. Dabei lernte er Heinrich Girsberger kennen, der Fahrer für einen Major war. Häberling und Girsberger verstanden sich auf Anhieb blendend und verbrachten im Militär viel freie Zeit miteinander. «Eines Tages stand Heinrich überraschend vor meinem Haus. Er war auf der Suche nach einem Abteilungsleiter für den elterlichen Schreinereibetrieb, der im grossen Stil Tische und Stühle herstellte.» Vor allem Edith Häberling hatte jedoch Vorbehalte, denn ihr gefiel es in Balsthal.
Der nächste WK brachte die Entscheidung. «Ich entschied, zu Girsberger zu wechseln.» Das Angebot sei bezüglich Verantwortung, Arbeitsbedingungen und Lohn einfach zu verlockend gewesen. «Das Unternehmen hatte schon damals 200 Mitarbeiter und eine Filiale in Deutschland. Berufsbegleitend bildete ich mich weiter, unter anderem mit Tagesseminaren an der ETH Zürich, und lernte auch die Filiale im deutschen Endigen am Kaiserstuhl kennen.» Kontinuierlich stieg Häberling in der Firma auf, war zunächst Abteilungsleiter «Beizen, Lackiererei, Endmontage, Spedition», wurde später Aussendienstmitarbeiter, dann Verkaufsleiter für den DACH-Raum und Schlüsselkunden und schliesslich Prokurist und Produktentwickler.
Auch privat ging das Leben weiter. Seine Tochter und seine drei Buben erblickten das Licht der Welt – zwei sind heute bereits im Pensionsalter. Die Familie kaufte ein Haus in Kestenholz, das Ruedi Häberling bis heute bewohnt. Die Finanzierung sei für ihn kein Klacks gewesen, fügt er an.
Dank dem «Anzeiger» seit 65 Jahren auf dem Laufenden
Gerne blickt er heute auf sein erfülltes Leben zurück. Auch mit der Zeit in Mettmenstetten bei seinem Onkel hat er sich versöhnt und genoss jedes Treffen mit der Familie seiner Frau und seinen früheren Turnkollegen im Säuliamt. Mit dieser Zeitung hält er sich über die Geschehnisse in seiner alten Heimat seit dem Wegzug vor 65 Jahren auf dem Laufenden. Er freut sich über den Besuch seiner Kinder, seiner sieben Enkelkinder und vier Urenkel und er vermisst seine Frau, die letztes Jahr wenige Monate nach ihrem 90. Geburtstag gestorben ist.
Keinen Spass macht ihm inzwischen jedoch das Älterwerden. Er sagt: «Zeit meines Lebens hat mir Sport viel bedeutet. Auch noch nach der Pensionierung war ich Fussballsenioren-Trainer – auch mit dem Ziel, dass die Beweglichkeit erhalten bleibt. Heute kann ich nicht mehr gerade stehen und auch das Gedächtnis lässt nach. Das macht mir zu schaffen.» Umso mehr schätzt er es, dass seine Tochter, seine Söhne und deren Familien ihm ermöglichen, den letzten Lebensabschnitt in den eigenen vier Wänden zu erleben.