«Der 1. August ist für die heutige Schweiz eigentlich irrelevant»
Wie zur Restaurationszeit sind heute wieder konservative Kräfte und Ideen auf dem Vormarsch. An der alljährlichen Tagung am Buss- und Bettag, im Kloster Kappel, wurden liberale Ideen verfochten und die Frage, ob man aus der Geschichte lernen kann, beantwortet.

«Es herrscht heute eine extreme Tribunalisierung. Es wird sofort angeklagt, ohne nachzudenken und selbst- sowie fremdverurteilt. So lange es immer einen Schuldigen braucht, verschliessen wir uns jeglicher Entwicklung», beschrieb der Theologe Dr. Peter Schmid den in der Schweiz vorherrschenden Zeitgeist. Der ehemalige Regierungsrat des Kantons Baselland und Mitglied des Rats des evangelischen Kirchenbundes hielt an der Tagung im Kloster Kappel einen Vortrag zur «Kirche im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation». «Ich werde über Vorsicht durch Rücksicht sprechen und mit einem Plädoyer für Umsicht aufhören», stieg Peter Schmid in seinen Vortrag ein.
Fundamentalisten verstehen primär nichts von Fundamenten
Es scheine ein starkes menschliches Bedürfnis zu sein, gerade der Schweizer, Bezüge zur Vergangenheit herzustellen – egal wie unpassend oder irreal diese auch seien. Wir Menschen seien unvollständige Individuen, die oft wüssten, was zu tun wäre, es aber trotzdem nicht machten. Deshalb sei es einfach, einfachen Lösungsvorschlägen zu folgen. Doch das Problem sei: «Fundamentalisten zeichnen sich primär dadurch aus, dass sie nichts von Fundamenten verstehen.» Wenn Fundamentalisten zurückblicken und sich zurückbesinnen, könne nicht viel Gutes daraus erwachsen. Oft hätten gute Absichten unbeabsichtigte Folgen, die nicht abgeschätzt werden könnten.
Nach diesem humanistischen Plädoyer ging er auf die Frage ein, ob das Gestern für das Morgen taugt? Der Blick über den Gartenzaun sei wichtig. Er könne sich aber nicht vorstellen, dass die Kleinräumigkeit irgendwelche gesellschaftlichen Lösungen bieten könne. Der Mensch sei wieder mobiler, nomadischer geworden. Deshalb seien territoriale Grenzen primär Hindernisse. Eine heterogene Gesellschaft brauche aber homogene Gedanken. Deshalb brauche es Abgrenzung gegen aussen und gemeinsame Referenzen. «Wer heute ein Fahrzeug fährt, muss in Fahrtrichtung schauen und ab und zu einen Blick in den Rückspiegel werfen, um sicher unterwegs zu sein», beantwortete Peter Schmid die Frage metaphorisch und ergänzte: «Man kann aus der Geschichte nicht eins zu eins ableiten. Wenn wir aber Methodiken und Prozesse analysieren, können wir daraus wertvolle Elemente für den Bau der Zukunft gewinnen.
Ein Denkmal für Zar Alexander I., anstatt für Wilhelm Tell
Der Rechtsprofessor Dr. Andreas Kley sprach über «Widersprüche auf dem Weg von der alten zur neuen Schweiz». Schweizer Historiker hätten sich immer davor gehütet, sich mit der Restauration und ihren Vorläufern, Helvetik und Mediation, auseinanderzusetzen. Dafür wurden mittelalterliche Geschichten hervorgekramt, auch wenn diese viel kleinere Effekte auf die heutige Schweiz hatten. Napoleon habe durch die Mediationsverfassung, die den föderalistischen Staat begründete, den Bürgerkrieg in der Schweiz beendet und ihr die heutige Struktur gegeben. Während der Restauration habe sich zudem Zar Alexander I. sehr stark für die Unabhängigkeit der Schweiz eingesetzt. «Um den historischen Umständen gerecht zu werden, würde ich auf dem Bundesplatz alle Tellstatuen abreissen und ein Denkmal für Alexander I. aufstellen. Auch der 1. August ist für die heutige Schweiz eigentlich absolut irrelevant», formulierte Andreas Kley pointiert.
Auf die Frage, ob man aus Geschichte lernen könne, meinte Andreas Kley: «Nein, und trotzdem brauchen wir Geschichte und Geschichten. Es wiederholt sich nie alles genau gleich, jedoch gibt es sehr viele Parallelen. Gerade in der momentanen Situation mit erstarkenden rückwärts und nach innen gerichteten politischen Strömungen, gibt es extrem viele Parallelen zur Zeit der Restauration.»
Dann sprach Andreas Kley seine Wünsche für die Zukunft an: «Die Schweizer könnten weniger streitsüchtig sein als vor 200 Jahren. Zudem müssen die internationalen Isolierungstendenzen unbedingt überwunden werden.» Aber auch im Innern bestehe Handlungsbedarf. Beispielsweise der Steuerkrieg zwischen den Kantonen müsse aufhören.