Der gute Wille reicht nicht

Auf der Reise zur Ironman-70.3-WM in St.George, Utah, hat Bernhard Schneider einen Eindruck der Unterschiede zur Raum- und Verkehrsplanung in der Schweiz erhalten. Hier fasst er seine Beobachtungen zusammen.

Die breite Shoulder erlaubt auf dieser Strasse bei St. George sicheres Velofahren – bis eine unübersichtliche Einfahrt den Radweg für 30 Meter unterbricht. (Bild Bernhard Schneider)
Die breite Shoulder erlaubt auf dieser Strasse bei St. George sicheres Velofahren – bis eine unübersichtliche Einfahrt den Radweg für 30 Meter unterbricht. (Bild Bernhard Schneider)

Die Schweiz zählt 2,6-mal so viele ­Einwohnerinnen und Einwohner wie Utah. Die Fläche von Utah beträgt mehr als das 5-Fache derjenigen der Schweiz. Somit leben 14-mal so viele Menschen auf einem Quadratkilometer in der Schweiz wie in Utah, wo Land im Überfluss vorhanden zu sein scheint. Das augenscheinlich höchste Gebäude in St. George ist der Tempel der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Die Wohngebäude sind meist ein-, manchmal zweistöckig. Quartierstrassen sind 15 bis 20 Meter breit, die Hauptstrasse Bluff Street bis zu 30 Meter.

Zur Fortbewegung dient das Auto

Ausser Schulbussen verkehren in St. George keine öffentlichen Verkehrsmittel. Zu Fuss sind nur einige wenige Touristen unterwegs, die Trottoirs ­befinden sich in der schmucken und wohlhabenden Kleinstadt in einem ­erstaunlich schlechten Zustand. Rollstuhlgängig bedeutet hier, dass es möglich ist, mit dem Rollstuhl vom Parkplatz ins dazu gehörende Gebäude zu gelangen, nicht, ohne Auto zum Nachbarhaus. Es kann durchaus sein, dass mittendrin eine Platte fehlt oder von der Strasse auf den Gehsteig eine Wasserrinne übersprungen werden muss.

Für Jogging und Radausflüge ­bestehen Wege, mit Sicherheitslinien in Kurven, Vortritts- und Höchstgeschwindigkeitstafeln. Die Vorschriften werden fast so wenig eingehalten wie die Höchstgeschwindigkeit auf den Strassen, die meist als Mindestgeschwindigkeit interpretiert wird. Selbst die ­Navigation von Google nimmt für die Berechnung der Fahrzeit eine Durchschnittsgeschwindigkeit an, die ein Zehntel über der erlaubten Höchst­geschwindigkeit liegt. Das Auto dient für alles, selbst für den Weg zum ­Veloweg. Veloabstellplätze habe ich in ganz Utah keine gesehen.

Fehlende Erfahrung

Die Velowege werden augenscheinlich von Leuten geplant, die Velofahren nicht aus eigener Anschauung kennen. Die Haarnadelkurven auf den Radwegen wurden kaum gebaut, um die technischen Fertigkeiten auf dem Rad zu ­testen, sondern eher, weil das Layout von entsprechenden Strassen einfach um den Faktor 10 verkleinert wurde.

Dasselbe gilt auch für die Radwege an Strassen. Die sogenannte «Shoulder» am Rand der Strasse dient fürs Velo­fahren und, wo nicht ausdrücklich ­verboten, zum Parkieren. So kann es sein, dass man von einem Camper, der auf der Shoulder steht, auf die rechte Fahrspur verwiesen wird, auf der ­niemand mit weniger als 100 Stundenkilometern unterwegs ist.

Immerhin werden hier und da ­Tafeln aufgestellt, der Abstand beim Überholen müsse 3 Fuss (1 m) betragen – hier sind die USA weiter als die Schweiz, allerdings nicht so weit wie unsere Nachbarländer, die 1,50 m vorschreiben.

Offensichtlich besteht ein Bewusstsein, Radwege zu schaffen. Neue Strassen erhalten oft auffallend breite Shoulders. Der fehlende Praxisbezug der ­Planer ist allerdings bei jeder Ein- und Ausfahrt erkennbar: Hier werden die Velowege unterbrochen. Einfahrten können oft erst am Ende der Shoulder überblickt werden, an einem Punkt, an dem Anhalten kaum mehr möglich ist.

Sinnvolle Höchstgeschwindigkeit

Bei einem Fuss-Rad-Weg in St. George, auf dem ich oft gelaufen bin, ist eine Höchstgeschwindigkeit von 15 Meilen pro Stunde (24 km/h) signalisiert. Schnellere Zweiräder werden im Interesse des Fussverkehrs auf die Strasse verwiesen. Eine solche Regelung wäre auch in der Schweiz sinnvoll. Dank des neuen Velowegartikels in der Bundesverfassung werden Velowege in der Schweiz nun so systematisch ­geplant wie die Fussverbindungen. ­Dieses konzeptionelle Denken hebt sich klar von den USA ab. Der gute Wille allein reicht für brauchbare Lösungen nicht aus.

Energie hat keinen Preis

Wir mieteten ein Auto, das genügend Stauraum für zwei Triathlon-Räder und unser Gepäck bot. Das bietet unser Auto in der Schweiz auch. Allerdings war das Mietauto in den USA markant länger, breiter, höher und schwerer. Der Benzinverbrauch belief sich auf das 2,5-Fache. Hier wäre es für die meisten Parkplätze zu breit – in Utah zählte es keineswegs zu den grösseren Fahrzeugen. Auffallend auch die vielen laufenden Motoren: Leute holen am Drive-Trough einen ­Kaffee und trinken ihn anschliessend bei laufendem Motor, damit die Klimaanlage nicht ausschaltet. Energie scheint keinen Preis zu haben.

Klimaanlagen fallen überall auf. Vor dem Kälteeinbruch, der eine Woche vor dem Wettkampf erfolgte, waren die meisten Restaurants so stark gekühlt, dass man sich in einer ungeheizten ­Skihütte wähnte. Nach dem Kälte­einbruch waren die Gaststätten und ­Einkaufszentren deutlich wärmer.

Die Menschen in Utah sind ­auffallend freundlich und man gelangt leicht ins Gespräch. Wenn ich erwähnte, dass ich den tiefen Benzinpreis von ­umgerechnet etwa 1.15 Franken als ­problematisch erachte, weil er ineffizientes Verhalten fördert, löste ich ­Verwunderung aus, denn vor dem ­Überfall Russlands auf die Ukraine war Benzin noch viel billiger. In Kalifornien liegt der Benzinpreis über 1.80 Franken. Und die Autos sind auffallend weniger gross.

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