«Der Rücktritt war ein Vernunftentscheid»
Die Mettmenstetterin Hannah Pfalzgraf (SP) verlässt den Kantonsrat im Juli – im Interview erklärt sie die Gründe

«Anzeiger»: Frau Pfalzgraf, im Kantonsrat wurde am Montag Ihr Rücktritt bekannt gegeben. Weshalb haben Sie sich zu diesem Schritt entschieden?
Hannah Pfalzgraf: Primär wegen meiner Ausbildung. Ich absolviere ein Studium zur Hebamme. Zum Abschluss steht nun ein Praxisjahr an, in dem ich Vollzeit arbeiten werde. Ich habe schon mehrere dreimonatige Praktika hinter mir, für die ich wegen meines Kantonsratsmandats zwar eine leichte Arbeitszeitreduktion erhalten habe, doch das Mandat entspricht 30 bis 40 Stellenprozenten. Zusammen mit Schichtarbeit in einem 90-Prozent-Pensum war das sehr streng. Deshalb wusste ich, dass ich beides auf Dauer nicht schaffe.
Sie treten also aus beruflichen Gründen zurück?
Genau. Aus ausbildungstechnischen Gründen, weil es gemäss Vorgabe der Fachhochschule nicht möglich ist, das Praxisjahr mit weniger als 80 Stellenprozenten zu absolvieren.
Wie schwer oder leicht ist Ihnen der Entscheid gefallen?
Es war ein Vernunftentscheid. Es wäre mir lieber gewesen, zu gehen, weil ich genug habe, statt dass mich meine Ausbildung dazu zwingt.
Sie wären also gerne noch Kantonsrätin geblieben?
Ich wäre nicht zurückgetreten. Wobei mir die Arbeit im Kantonsrat in den vergangenen siebeneinhalb Jahren nicht nur leichtgefallen ist. Als ich nachrückte mit knapp 21 Jahren, hatte ich, inspiriert von der Arbeit bei den Juso, viele Visionen und Ideen. Doch ich merkte bald, dass der Kantonsrat ein recht schwerfälliges Gremium mit nicht gerade förderlichen Mehrheiten ist. Das auszuhalten und sogar für die kleinsten Kompromisse noch extrem kämpfen zu müssen, fand ich sehr frustrierend. Das hat an meiner politischen Energie gezerrt. Deshalb freue ich mich auch, mich in Zukunft wieder an Orten zu engagieren, wo ich die Auswirkungen meiner Arbeit direkter sehe.
Sie waren Mitte Januar 2018 für Moritz Spillmann in den Kantonsrat nachgerückt. Erinnern Sie sich an Ihre erste Kantonsratssitzung?
Ich weiss noch, dass ich total nervös war, als ich dort vorne stand. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir aber eine andere Szene: In der Sitzung wurde über eine Verkehrsberuhigung in irgendeiner Gemeinde diskutiert. Es war bereits Nachmittag, und obwohl klar war, wie die Abstimmung zum Geschäft ausfallen würde, wollte sich gefühlt jeder noch dazu äussern. Und alle taten das mit denselben Begründungen. In der Juso hatte ich mir angewöhnt, nur Argumente vorzutragen, die noch niemand vorgebracht hat, um die Sitzungen nicht unnötig zu verlängern. Die Diskussionskultur im Kantonsrat war völlig anders.
Haben Sie in den vergangenen Jahren mehr Verständnis für den Gesetzgebungsprozess entwickelt?
Jein. Ich sehe, dass es diese parlamentarischen Prozesse braucht und ich habe mehr Verständnis dafür entwickelt, dass sich die grossen Veränderungen nicht von heute auf morgen umsetzen lassen, doch die Ungeduld ist geblieben.
Das klingt etwas desillusioniert.
Tatsächlich habe ich im Laufe der Zeit eine Art Zynismus entwickelt, vielleicht aus Selbstschutz vor der Frustration, dass es nicht vorwärtsgeht. Daran habe ich gemerkt, dass ich dieses Amt nicht ewig machen kann.
Gab es andere Gegebenheiten, mit denen Sie haderten?
Sehr frustrierend war es für mich, wenn andere Fraktionen nach langen Verhandlungen und Kompromissen am Schluss doch anders gestimmt haben, ohne das vorher mitzuteilen. In solchen Situationen wurde jeweils mein Glaube an die gute Zusammenarbeit ein wenig erschüttert.
War manches auch besser, als Sie es erwartet hatten?
Ja, die Zusammenarbeit in der Fraktion lief sehr gut. Ich wurde mit offenen Armen empfangen und gestützt, es waren alle sehr geduldig und hilfsbereit. Es war überhaupt kein «Ellbögeln», wie man es womöglich erwarten würde.
Sie haben diverse Vorstösse eingereicht oder mitunterzeichnet. Was haben Sie mit Ihrer Politik bewegt?
Auf Stufe der Kommission natürlich nicht so viel, weil es in der Finanzkommission nicht allzu viele Sachgeschäfte gibt und wir uns bei den Finanzthemen mehr oder weniger in einem Abwehrkampf befinden. Ich habe Vorstösse gegen die Queer-Feindlichkeit im Kanton Zürich gemacht, beispielsweise habe ich gefordert, dass die Fachstelle für Gleichstellung von Frau und Mann analog der Stadt ausgeweitet werden soll, sodass sie auch für diskriminierte queere Personen eine Anlaufstelle sein kann. Für dieses Postulat kam eine Mehrheit zustande. Weiter habe ich in einem Vorstoss eine Gebührenreduktion für junge Ausländerinnen und Ausländer bei der Einbürgerung gefordert. Auch dieser Punkt ist ins neue Einbürgerungsgesetz eingeflossen.
Während Ihrer Zeit im Kantonsrat haben Sie als Wochenaufenthalterin zunächst in Basel gewohnt, nun in Zürich. Nach Ihrem Amtsantritt 2018 kam in einem Interview die Frage auf, ob Sie Ihre Wählerschaft aus der Ferne überhaupt angemessen vertreten können. Sie sagten damals, dass Sie bei Anlässen im Bezirk «Präsenz markieren» wollen. Ist Ihnen das gelungen?
Mir war es wichtig, an den SP-Veranstaltungen teilzunehmen und an Podien, zu denen ich eingeladen werde. Ich konnte sicher nicht überall dabei sein, wo ich es gerne gewesen wäre. Manchmal musste ich priorisieren und deshalb auch absagen. Aber ich habe es probiert.
Andere Kantonsräte waren präsenter – mit Teilnahmen an Gemeindeversammlungen, öffentlichen Auftritten, Kolumnen.
Die letzten drei Jahre waren wegen meiner Ausbildung sehr intensiv. Ich hatte ein Vollzeit-Studium, das Kantonsratsmandat und das Co-Präsidium des Gewerkschaftsbundes des Kantons Zürich. Und gerade in den Praktika war ich sehr unflexibel mit der Planung meiner Freizeit. Das war so viel aufs Mal, sodass irgendwo die Ressourcen gefehlt haben.
Geben Sie nun auch das Co-Präsidium des Gewerkschaftsbunds ab?
Ja. Ich habe dieses Amt übernommen, um eine Schnittstelle zwischen Politik und Gewerkschaftsarbeit zu bilden. Mit dem Rücktritt gebe ich auch das Co-Präsidium ab.
Ziehen Sie sich ganz aus der Politik zurück?
In der Vergangenheit hatte ich die Tendenz, mir für jedes Amt, das ich abgab, zwei neue zu suchen (lacht.). Ich bin weiterhin im Parteirat der SP Schweiz. Abgesehen davon will ich mich vorerst ohne weitere Verpflichtungen auf meine Ausbildung konzentrieren. Wie es später aussieht, lasse ich offen. Ich glaube nicht, dass ich ganz ohne Politik leben kann, dafür bin ich zu interessiert und ist es mir zu wichtig, etwas zum politischen Geschehen beizutragen.
Sie schafften ohne Erfahrung in der Gemeindepolitik direkt den Sprung in den Kantonsrat. Ist es denkbar, dass Sie sich eines Tages doch noch in der Kommunalpolitik engagieren?
Ich kann mir das durchaus vorstellen. Andererseits glaube ich mit meinem heutigen Erkenntnisstand, dass ich keine besonders geeignete Exekutiv-Politikerin wäre.
Weshalb?
Ich vermute, dass so ein Exekutivamt nicht zu meiner Person passt. In der Exekutive stehen das kollegiale Zusammenarbeiten und der Konsens im Vordergrund. Ich bin durchaus kompromissfähig, zugleich verlangt es mir auch einiges ab, mich mit weniger zufriedenzugeben. Im Parlament hat man wenigstens die Möglichkeit, das Maximum zu fordern und dann sagen zu können: Wir hätten es halt besser gewusst.
Klingt, als stecke der Juso-Spirit immer noch ein bisschen in Ihnen drin …
Immer noch ein bisschen, wenn ich ehrlich bin. (lacht.)
Zur Sache: Roger Schmutz rückt nach
Als 1. Ersatzmitglied bei Rücktritten gilt jene Person, die bei den letzten Kantonsratswahlen im jeweiligen Wahlkreis für die betreffende Partei am zweitmeisten Stimmen geholt hat. Im Bezirk Affoltern war das für die SP Roger Schmutz. Der 47-Jährige wohnt in Wettswil, amtet dort als Primarschulpräsident und arbeitet hauptberuflich im Marketing einer Schreinerei. Auf Anfrage hat er bestätigt, die Wahl annehmen zu wollen. Er wird voraussichtlich in der ersten Sitzung nach den Sommerferien vereidigt. (lhä)