Ein ganzes Leben – Szenische Lesung

Fast zwei Stunden lang lauschten die Besucher der Bibliothek Ottenbach gebannt den Szenen aus dem Leben von Andreas Egger, einem einfachen Seilbahnarbeiter im 20. Jahrhundert. Die Schauspieler Irina Schönen und Gian Rupf gestalteten den Text so, dass tiefe Betroffenheit und Nachdenklichkeit nachklang.

Die Schauspieler Irina Schönen und Gian Rupf lasen aus dem Roman «Ein ganzes Leben» von Robert Seethaler und lösten tiefe Betroffenheit aus. <em>(Bild Regula Zellweger)</em>
Die Schauspieler Irina Schönen und Gian Rupf lasen aus dem Roman «Ein ganzes Leben» von Robert Seethaler und lösten tiefe Betroffenheit aus. <em>(Bild Regula Zellweger)</em>

Sitzstufen findet man in vielen Bibliotheken. Hier können bei Anlässen Zuschauer und Zuhörer auf relativ kleinem Raum genügend Platz finden. Am vergangenen Freitag war in der Bibliothek alles anders. Stuhlreihen für das Publikum waren auf die Sitzstufen ausgerichtet. Ein schmales Holzpodest war auf den Sitzstufen aufgebaut, abgestützt auf zwei Buchstapel. Auf dem Podest standen ein Taburett und ein dreibeiniger Schemel. Irina Schönen und Gian Rupf stiegen die Sitzstufen hinauf, öffneten das Taburett, entnahmen ihm zwei gleiche Bücher und setzten sich auf die beiden Stühle. Und dann war man mitten in einer anderen Welt.

Verdingkind

Im Bergdorf waren die Menschen zu Beginn des letzten Jahrhunderts arm. Manche ärmer und ohnmächtiger als andere. So Andreas Egger, der als vierjähriges Waisenkind zum reichen, sadistischen Bauern Kranzstocker gekommen war. Dieser pflegte den Jungen mit einer Haselrute zu züchtigen. Der Junge lernte spät sprechen, und tat es sein Leben lang selten. Als der Bauer wieder einmal das nackte Hinterteil des kleinen Jungen mit einem Stock traktierte, knackte es. Ein Knochen war gebrochen. Der Knochenrichter schiente das Bein, rieb Kräutersalbe ein und verband das Bein. Als der Verband nach sechs Wochen entfernt wurde, war Andreas Egger gehbehindert. Sein Leben lang.

1910 kam Andreas in die Dorfschule – wenn er nicht für den Bauern schuften musste. Er ging langsam, dachte langsam und sprach langsam. Aber er war körperlich stark. Mit 18 Jahren bot er dem Bauern die Stirn: «Wenn Du mich noch einmal schlägst, bringe ich Dich um.»

Liebe und Krieg

Andreas Egger bezog eine Hütte hoch über dem Dorf. Zu dieser Zeit wurde im Tal eine Seilbahn gebaut, der Tourismus hielt Einzug. Egger fand trotz seiner Behinderung Arbeit beim Seilbahnbau und in Marie fand er eine liebevolle Frau. Er bat sie, ihn zu heiraten, indem er an der Felswand die Worte «Für Dich Marie» mit 250 1,5 Kilogramm schweren Säckchen mit Holzstückchen entzünden liess. Marie und er verstanden sich ohne viele Worte. Doch das Glück war von kurzer Dauer, eine Lawine begrub die Hütte und Marie unter sich.

Egger fand weiterhin Arbeit beim Seilbahnbau. 1942 wurde er eingezogen, kam in den Kaukasus, um «den Osten zu befreien». Bald geriet er in russische Kriegsgefangenschaft. Erst 1951 kehrte er zurück. Nun wurde es immer schwieriger, Arbeit zu finden. Egger lebte und starb in tiefster Armut.

Authentisch

Die Zuhörer verfolgten fasziniert die Lesung der beiden Schauspieler, die grobe, schmutzige Bergschuhe mit Wollsocken und Kleider trugen, die zu der Zeit und der Bergwelt passten. Die Dramaturgie der Lesung, der Wechsel der Stimmen, die lebendige Mimik der Schauspieler und die bildhafte Sprache des österreichischen Schriftstellers Robert Seethaler fesselten, berührten, bewegten – man merkte nicht, wie die Zeit verflog. Man war emotional unausweichlich mitten drin. In den Köpfen liefen individuelle Filme ab, die nachhaltig bleiben werden.

Es war erklärte Absicht der Schauspieler, Betroffenheit auszulösen. Dies gelang, weil beide den Protagonisten spürbar achten und lieben, einen einfachen, ehrlichen, geraden Menschen. Der Roman beschreibt die Zeit der Grosseltern der Bibliotheksbesucher, eine Generation, die zwei Weltkriege erlebte. Manch einer besann sich zurück an deren Erzählungen, an die Werte, welche diese aufgrund ihrer Zeit vermittelt hatten. Und zog die Parallele zur Gegenwart. Wie stehen wir heute im Leben?

Das Team der Bibliothek Ottenbach hat den Besuchern ein tiefgründiges, nachhaltiges Erlebnis beschert und einmal mehr aufgezeigt, dass Bücher, Lebensgeschichten, von professionellen Schauspielern beeindruckend vermittelt, unter die Haut gehen und bewegen können.

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