Eine Existenz geht in Flammen auf
Vor siebeneinhalb Jahren brach in Maya Streichs Haus in Affoltern um fünf Uhr morgens ein Feuer aus. Mit einem Sprung aus dem Fenster rettete sie sich – und begann nach und nach zu realisieren, was es bedeutet, kein Zuhause mehr zu haben.
Am Sonntag, 20. Oktober 2013, kurz nach fünf Uhr morgens, bewegt sich im ersten Stock an der Betpurstrasse 26 in Affoltern eine Katze. Sie tappt über das Bett von Maya Streich und Reto Lang. Dieser erwacht, sieht sich um, weckt seine Partnerin und sagt: «Da ist alles voller Rauch.» Und sie antwortet: «Dann musst du halt lüften.» «Aber es brennt!», sagt er. «Dann gehen wir halt raus.»
So schildert Maya Streich heute ihre erste Reaktion auf den Brand, der damals wegen einer Speiseöl-Flasche im Küchen-Kehricht ausbricht und ihr ganzes Haus in Schutt und Asche legt. Die 63-Jährige sitzt in einem Besprechungsraum in Affoltern und trägt die Episode mit ruhiger Stimme vor. Siebeneinhalb Jahre sind seit dem Brand vergangen.
Der Rauch ist aus der Küche das Treppenhaus hochgestiegen, im Schlafzimmer ist er noch nicht ganz so dicht, sodass Maya Streich den Kleiderschrank noch sieht. Als ihr Partner aus dem Zimmer rennen will, ruft sie: «Stopp! Du muss dich noch anziehen.» Auch sie greift sich von ihrem Tablar ein Shirt. «Komm!», habe Reto gerufen, bevor er über das Treppenhaus ins Erdgeschoss und ins Freie gerannt sei. Als deckenhoch beschreibt Maya Streich die Flammen zu jenem Zeitpunkt. «Das tut weh!», sei ihr Reflex gewesen, «das mache ich sicher nicht». Während sie erzählt, tippt sie sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
Um die Feuerwehr zu alarmieren, schnappt sie sich auf dem Nachttisch das Handy, eilt ins Wohnzimmer und springt aus dem Fenster in die Tiefe. Dass ein Sprung aus drei Metern Höhe Gefahren birgt, realisiert sie nicht. «Ich wollte nur noch raus.»
Der Birnenspalier und das Gebüsch im Garten federn ihren Aufprall ab. Mit dem Handy ruft sie die Feuerwehr. Dann rennt sie ums Haus, öffnet die Türe, greift um die Ecke nach dem Autoschlüssel und parkiert den Wagen um, damit die Feuerwehr Platz hat. Ihr Partner Reto behändigt den Gartenschlauch, aus einem Reflex heraus, der dem Paar damals logisch scheint: «Wenn es brennt, braucht man Wasser.» Maya Streich sagt, zu diesem Zeitpunkt habe der erste Stock lichterloh gebrannt, «was will man da mit einem Gartenschlauch?»
Im Gesamtkontext möge ein solcher Löschversuch wenig ins Gewicht fallen, sagt Alexander Smolinsky, Kommandant bei der Stützpunktfeuerwehr Affoltern. Bei der Verarbeitung des Ereignisses könne die Gewissheit, alles versucht zu haben, den Betroffenen jedoch helfen. Problematisch werde es, wenn die Bewohner in der Panik unbewusst das Falsche täten: Wenn sie beispielsweise die Fenster öffnen und damit die Ausbreitung des Feuers forcieren.
Die Brandfotos verbreiten sich rasch
Vor der Feuerwehr trifft die Ambulanz ein. Maya Streich kennt den Fahrer. Er hält neben ihr an, sie sagt zu ihm: «Uns gehts gut.» Als wenig später auch die Feuerwehr eintrifft, bricht sie heulend zusammen.
Im Moment, im dem ein professionelles Rettungsteam übernehme, falle häufig die Anspannung von den Betroffenen ab, sagt Alexander Smolinsky: «Bei manchen breitet sich ein Gefühl der Ohnmacht aus.» Grundsätzlich treffe man die Menschen vor Ort in ganz unterschiedlichen körperlichen und psychischen Verfassungen an. Etwa in der Hälfte aller Fälle komme es vor, dass Bewohnerinnen und Bewohner versuchten, noch einmal in das Haus zu gelangen, um das Büsi zu retten, ein Fotoalbum, aber auch Wertgegenstände oder Bargeld. Das sei nicht per se falsch, so Smolinsky, jedoch sei es wichtig, die Gefahr richtig einschätzen zu können: «Der Rauch kann innerhalb weniger Atemzüge lebensbedrohliche oder bleibende Schäden im Körper anrichten.»
Maya Streich schätzt, dass es gegen sechs Uhr früh ist, als sie die beiden Söhne und ihren Ex-Mann anruft, die sich sofort auf den Weg zu ihr machen. Gegen acht Uhr telefoniert sie mit ihrer schwangeren Tochter, die mit ihrem Mann den obersten Stock des Hauses bewohnt und gerade in den Ferien ist. «Unser Haus brennt», sagt sie, und als diese sofort einen Flug buchen will, entgegnet Maya Streich: «Es macht keinen Sinn, dass du frühzeitig nach Hause kommst. Dort hast du wenigstens ein Hotelzimmer.»
Bald schon erscheinen online erste Fotos vom Löscheinsatz. Der einzigartige Fassadenschmuck wird erkannt, bei Maya Streich und ihrer Tochter tröpfeln erste SMS von Bekannten ein: «Ist das dein Haus, das in Flammen steht?»
Ungefähr gegen 9 Uhr werden Maya Streich und ihr Partner im Spital wegen Verdachts auf Rauchvergiftung untersucht. Reto Lang hat sich in den Flammen im Gesicht verbrannt und muss verarztet werden. Erst, als sie gefragt wird, woher die Wunden am Arm und an den Knien stammen, realisiert Maya Streich, dass sie sich bei ihrem Sprung aus dem Fenster verletzt hat.
Ein Glas Prosecco auf das Leben
Die Löscharbeiten der Feuerwehr dauern den ganzen Tag. Maya Streich und Reto Lang entscheiden sich, nach der Untersuchung im Spital zu ihrem Haus zurückzukehren: «Wir sind lange dort gestanden und haben der Feuerwehr zugeschaut.» Sie sagt, in diesem Moment hätten sie die Tragweite des Ereignisses noch nicht erfasst: «Wir standen zwar vor dem brennenden Haus, und doch schienen wir zu glauben, am Abend dahin zurückzukehren.» Sie hätten irgendwo zwischen Ernüchterung und Unfassbarkeit im Dunkeln getappt. So ergehe es den meisten Betroffenen, sagt Alexander Smolinsky. «Sie realisieren, was passiert, aber sie sind noch nicht in der Lage, die Konsequenzen einzuordnen. Zum Beispiel, dass das Haus über Monate nicht bewohnbar sein wird.»
14 Jahre ist das Haus Maya Streichs Zuhause gewesen. 1999 hat sie es gemeinsam mit ihrer damaligen Partnerin gekauft und Stück für Stück renoviert. Am Abend des 20. Oktobers sind von ihrem Haus noch die Steinmauern übrig. Nach dem Löscheinsatz machen sie und ihr Partner sich im Korb der Feuerwehr-Drehleiter aus der Luft ein Bild über das Ausmass der Katastrophe. Es sei ein fürchterlicher Anblick gewesen, das eigene Haus so verwüstet zu sehen. Und doch habe sie diesen Blick gebraucht, um sich zu verdeutlichen, dass real sei, was sich vor ihren Augen in den vergangenen Stunden abgespielt habe.
In den kommenden Tagen und Wochen wohnen Maya Streich und Reto Lang bei einem befreundeten Ehepaar in Affoltern, bevor sie in Zwillikon ein Gartenhäuschen beziehen. Am Abend jenes Tages, an dem sie nahezu ihren gesamten Besitz verloren haben, öffnen sie zu viert eine Flasche Prosecco, um auf das anzustossen, was ihnen geblieben ist: ihre beiden Leben. «Zehn Minuten später», habe der Feuerwehrmann gesagt, «und Sie wären tot gewesen».
Dem neuen Haus fehlt die Geschichte
Ausser einer Kupferkanne und mehrerer Buntglas-Fensterscheiben kann Maya Streich aus ihrem Haus nichts retten. Doch die Solidarität sei enorm gewesen, sagt sie. Freunde und Bekannte spendieren Haushaltsartikel und Schachteln voller Kleidung. Ihre Arbeitgeberin sammelt für sie – 4000 Franken sind es am Schluss. Dieses Geld wird sie ein paar Monate später in die Einrichtung ihres wiederaufgebauten Hauses investieren. Zunächst aber kümmert sich das Paar nochmals um das verbrannte Mobiliar: Für die Versicherung müssen sie ihren gesamten Hausrat katalogisieren. Wo hat in welchem Stock was gestanden? Und wie viel Wert hatte es? Sich selber im Detail vor Augen zu führen, was man alles verloren hat, sei ein schmerzhafter Prozess gewesen, sagt Maya Streich. Am meisten vermisst sie jedoch Dinge ohne Versicherungs-, aber mit emotionalem Wert. Ihr Lieblingsjäckchen etwa, und die Familienalben. Auch Ausbildungszeugnisse oder Ausweise fehlen. All diese Dokumente muss sie sich neu beschaffen. Das verursacht zahlreiche Behördengänge – neben all den haftungsrechtlichen Fragen, die sich rund um das Haus stellen.
Im Mai 2014 – sieben Monate nach dem Brand – fahren an der Betpurstrasse in Affoltern die Baumaschinen vor. Zunächst seien sie nicht sicher gewesen, ob sie nochmals bauen wollten. Schliesslich hätten sie sich dafür entschieden, sagt Maya Streich. Die Abrissarbeiten bereiten ihr zunächst Bauchschmerzen: «Mit dem Bagger in mein Haus? Sicher nicht», habe sie sich gedacht. Dann aber läuft es dank des umsichtigen Baggerfahrers besser als erwartet. «Möchtest du das behalten?», fragt er Maya Streich, wenn er auf Gegenstände trifft, die einigermassen unversehrt geblieben sind. Auf diese Weise rettet sie auch einen selbst gestrickten Pullover. Dieser erweist sich nach dem Waschen zwar als unbrauchbar, und doch sei sie durch das selbstständige Aussortieren ein Stück des Ohnmachtsgefühls losgeworden, das sie in den Stunden des Brands erlebt habe.
Im Juni 2015 zieht Maya Streich mit ihrer Familie in das wiederaufgebaute Haus ein. Weil der Rauchmelder in der ersten Nacht noch nicht montiert ist, schläft sie damals kaum, wie sie sagt. Zunächst hat sie Mühe, sich in ihrem Zuhause einzuleben: «Alles war neu, jede Kleberrolle, jedes Tüchlein. Im diesem Haus gab es lauter Gegenstände ohne Geschichte.»
Die wenigen Gegenstände, die ihr vom alten Haus geblieben sind, helfen mit, dem Haus zu neuem Charakter zu verhelfen. Die Kupferkanne steht heute auf einem Schrank, die Buntglas-Fensterscheiben schützen wieder vor Regen, Hitze und Sturm. Und auch den Birnenbaum, der damals Maya Streichs Sturz abgefedert hat, gibt es noch: Er ist jetzt eine Bar.