Eine fast normale Studienlaufbahn, wenn nur der Krieg nicht wäre

Iryna Lukianova ist 27 Jahre alt, sie wohnt seit drei Monaten in Ottenbach und studiert am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich.

Iryna Lukianova entdeckt die Schweiz bei Spaziergängen. (Bild zvg.)
Iryna Lukianova entdeckt die Schweiz bei Spaziergängen. (Bild zvg.)

Iryna Lukianova stammt aus Beresanka, einer Gemeinde mit etwa 4000 Einwohnenden im Bezirk Mikolajiw im Süden der Ukraine. Von Beresanka ist man mit dem Bus in zwei Stunden in Odessa, wo ihre Mutter an der Universität unterrichtet. Ihr Vater arbeitet am Hafen von Juschne, einem wichtigen Stützpunkt der Ukraine am Schwarzen Meer. Ein weiterer wichtiger Hafen an der Mündung des Dnjpro liegt in Cherson, das umkämpft ist. Von Beresanka zum ­Bezirk Cherson sind es nur wenige Kilometer Luftlinie.

Die junge Politologin erzählt, wie es am Tag vor ihrer Abreise in die Schweiz eine ungeheuer laute Explosion im nahen Otschakiw gab, bei der mehr als tausend Häuser zerstört wurden. Besonders die Zerstörung von Mariupol vor einem Jahr habe sie aufgewühlt. Die Eindrücke ihres kriegsversehrten ­Landes verarbeitet Iryna Lukianova zu Videoclips, zu denen sie ihre eigene Musik komponiert. Es sei schwierig, die Familie in Gefahr zu wissen und sich zeitgleich in friedlicher Umgebung auf die Arbeit zu konzentrieren.

Erst der Studienplatz ...

Dank des Studienangebots für Geflüchtete, kann sie an der Universität Zürich ihr Studium fortsetzen. Sie absolviert Vorlesungen in Englisch, wird gut betreut und kann ihre eigene Forschung mit Schwerpunkt «Internationale Beziehungen» vorantreiben. Nach ihrem Masterstudium in Salerno wollte sie ­eigentlich in Kiew promovieren, die Universität sei aber teilweise lahmgelegt. In der Ukraine sei das Sprichwort «Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von deinen Plänen.» Bittere Wahrheit.

Der Deutschkurs liegt auf Eis, da die ersten Ukrainer, die vor einem Jahr in die Schweiz kamen, bereits auf dem ­B1-Niveau seien. Sie muss nun warten, bis wieder ein Anfängerkurs angeboten wird. Sie ist aber nicht untätig, mit ihrer Schweizer «Schlummermutter», übt sie schreiben und sprechen.

... und in letzter Minute die Unterkunft

Damit die Fortsetzung ihres Studiums in Zürich möglich wurde, brauchte es die Unterstützung von Vielen. Ende letzten Jahres dachte Iryna Lukianova enttäuscht, dass es mit Zürich wohl nichts werden würde, da sie keine Wohnmöglichkeit in der Schweiz fand und die Einschreibefrist an der Uni Zürich bald endete. In letzter Minute setzte ihre jetzige Nachbarin, die sie ein Jahr zuvor durch deren Schwiegersohn kennengelernt hatte, alle Hebel in Bewegung und ihr jetziger Gastgeber bot derart unkompliziert Hand respektive Bett und Unterkunft, dass sie Ende Januar in die Schweiz ­reisen konnte. Mit ihrer Familie in der Ukraine und Freunden, die überall in der Welt verstreut seien, bleibe sie in engem Kontakt übers Internet, tagsüber habe sie an der Uni viel Austausch und abends beim Gastgeber und den Nachbarn. Sie sei auch schon an Chorproben des Ottenbacher Chors dabei gewesen: «Sie sind sehr freundlich», sagt sie im Gespräch und freut sich, dass Musik die Sprachgrenzen überwinden kann. Gerne erholt sie sich auch in der Natur, die Reuss hat es ihr angetan: «Ihr lebt in einem wunderschönen Gebiet.»

Die Politikwissenschaftlerin und der Krieg

Als Mädchen hat Iryna Lukianova in der Ukraine eine Schülerolympiade im Fach Geschichte gewonnen. Auf die Frage ihrer Tante, warum sie Geschichte gewählt habe, antwortete die junge Iryna damals: «Ich will, dass es in der Ukraine nie Krieg gibt und wenn ich mal Präsidentin bin, muss ich die Geschichte verstehen.» Die Tante habe sie damals ausgelacht und gemeint, dass es in der Ukraine nie Krieg geben würde.

Und wie ordnet die junge Politologin heute diesen Krieg ein? Ihre Ansichten sind entschieden. Auch wenn der Krieg nach Ablauf des Jahres zu Ende wäre, was sie nicht glaube, werde der Wiederaufbau Jahre dauern. Das so fruchtbare Land sei mit Munition kontaminiert. Wenn man davon ausgehe, dass die ­Ukraine das Bruttoinlandprodukt nach dem Krieg jährlich um drei Prozent steigern könne, würde es dennoch zehn Jahre dauern, bis das Land wieder den wirtschaftlichen Stand von vor Kriegsbeginn erreicht hätte. Und auch das würde nur mit Unterstützung aus dem Ausland funktionieren. Sie hofft stark auf die Hilfe der EU und auch der Schweiz. Die Schweiz mache schon viel.

Übermächtiger Nachbar

Auf die Frage, was sie von den zurückgehaltenen Kriegsmateriallieferungen halte, sagt die junge Ukrainerin. Sie könne das gut nachvollziehen, die Schweiz führe eine pragmatische Neutralitätspolitik, die sich bewährt habe, immerhin sei die Schweiz seit den Verhandlungen am Wiener Kongress 1815 in keine internationalen kriegerischen Auseinandersetzungen mehr involviert gewesen. Sie weist auf die Lugano-Konferenz vom letzten Sommer hin, bei der die Schweiz die erste Friedenskonferenz angestossen habe und sich auch sonst konstruktiv einbringe, zum Beispiel um das Land von Minen zu säubern.

Pro-russischen Einwänden, die ins Feld führen, dass Russland zum Krieg provoziert wurde, kann sie nichts abgewinnen. Die Ukraine sei gar nicht in der Lage, ein Land wie Russland zu provozieren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe die Ukraine alles nukleare Material verschrotten oder Russland übergeben müssen. «Wie hätte sie so den übermächtigen Nachbarn provozieren können!?»

Nicht kämpfen sei keine Option, denn das würde für die Ukraine und ihre Landsleute den Verlust der Unabhängigkeit und Freiheit bedeuten, abgesehen von den Repressalien, die unweigerlich folgen würden. Die Ukrainer fühlen sich den Werten Europas verbunden. «Wir wollen Teil der Europäischen Familie sein, weil wir dieselben Werte teilen, und Selbstbestimmung wollen.»

 

Das Gespräch wurde in Englisch geführt.

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