Handeln statt unverbindlich sondieren

Die Neutralität habe der Schweiz während der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts unbestreitbar genützt, doch das Blatt habe sich gewendet. Heute sei sie nicht mehr im Interesse unseres Landes, führte er am Dienstag im «Löwen» Hausen aus: «Wenn radikale Dinge geschehen, ist es entscheidend, ob man in der Lage ist, umzudenken.»

Gesprächsleiter Franz Schüle, Referent Tim Guldimann, Pianistin Nadja Saminskaja und Georges Köpfli, Präsident SP Hausen.

Gesprächsleiter Franz Schüle, Referent Tim Guldimann, Pianistin Nadja Saminskaja und Georges Köpfli, Präsident SP Hausen.

Viel Applaus im bis auf den letzten Platz gefüllten «Löwen»-Saal in Hausen. (Bilder Bernhard Schneider)

Viel Applaus im bis auf den letzten Platz gefüllten «Löwen»-Saal in Hausen. (Bilder Bernhard Schneider)

«Ich bin überwältigt», begrüsste Georges Köpfli, Präsident der SP Hausen, die 200 Besucherinnen und Besucher der Veranstaltung «Zeitwende in Europa» mit dem ehemaligen Schweizer Diplomaten und Nationalrat Tim Guldimann und der Pianistin Nadja Saminskaja. Im Zent­rum der Ausführungen des erfahrenen Diplomaten stand die Frage, was die Schweiz benötigt, um für weitere Krisen gewappnet zu sein.

Der Überfall von Putins Truppen auf die Ukraine am 24. Februar 2022 habe eine Zeitenwende eingeleitet, die sich auf alle Lebensbereiche auswirke. Weitere Krisen drohten: Die Klimakrise, die grösste Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg, auch eine neue Pandemie sei nicht auszuschliessen. In einer Krise sei es aber zu spät, Partner zu suchen. Wenn es um die Wurst gehe, reiche es nicht aus, freundlich zu lächeln.

Als Beispiel nannte Guldimann das fehlende Stromabkommen mit der EU. Damit das Schweizer Netz die aktuellen Herausforderungen mit Erdgasmangellagen und Energiewende bewältigen könne, stünden kurzfristig Investitionen in Milliardenhöhe an. Ohne Stromabkommen, das wegen des unüberlegten Rückzugs des Bundesrats aus dem Rahmenabkommen auf Eis liege, müsse die Schweiz allein dafür aufkommen – denn wer bezahle schon freiwillig Beiträge an ein anderes Land, das darüber hinaus Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung ohne ernsthafte Begründung untersage?

Waffen zur Selbstverteidigung

«Es geht bei diesem Krieg um den Angriff auf einen europäischen Staat, um die europäische Sicherheit und damit auch um unsere Interessen, darum bin ich radikal für Waffenlieferungen», hielt Guldimann unmissverständlich fest. Natürlich laufe in der Ukraine nicht alles perfekt, selbstverständlich habe auch der Westen Fehler gemacht: «Aber das legitimiert keinen Angriffskrieg! Die Nato-Erweiterung entsprach dem Wunsch der osteuropäischen Staaten, vor Russland geschützt zu werden. Zu Recht, wie wir jetzt leider feststellen müssen.»

«Auch SP und Gewerkschaften haben die Dramatik noch nicht erfasst», fuhr Guldimann fort, da sie mit ihrer sturen Haltung beim sogenannten Lohnschutz massgebend zum Scheitern des Rahmenvertrags und diese Woche im Ständerat zur Ablehnung einer erleichterten Weitergabe von Waffen an die Ukraine beigetragen hätten. Ganz besonders die osteuropäischen Staaten könnten dies nicht verstehen. Da die Verträge mit der EU, welche die Schweiz dringend benötige, seitens der EU Einstimmigkeit erfordern, habe sich die Verhandlungssituation unseres Landes deutlich verschlechtert.

Der Bundesrat glaube, er könne mit ein wenig Imagepflege und unverbindlichem «Sondieren» der Stimmung in Bruxelles den Problemen aus dem Weg gehen. Diese Rechnung gehe nicht auf, unsere Partner wollten klare Aussagen und konkrete Taten sehen.

«Musik ohne Grenzen»

Stimmig umrahmt wurde der Abend von der in Moskau geborenen Pianistin Nadja Saminskaja, die in Zürich eine von ihr gegründete Musikschule leitet und die künstlerische Co-Leitung der ­«Konzerte im Kulturpark Selegermoor» innehat.

«So unmissverständlich, wie ich den Angriff auf die Ukraine verurteile, weigere ich mich, die russische Kultur für Putin in Geiselhaft zu nehmen», leitete Tim Guldimann von der Musik zu seinem Referat über. So pessimistisch er selbst auch die Lage der Schweiz sehe, der Name Nadja bedeute Hoffnung und das Motto «Musik ohne Grenzen» passe dazu.

Debatten zu verschiedenen Themen mit Tim Guldimann unter www.timguldimann.ch.

Auferzwungene Neutralität

Die Gründung der Schweiz und deren Neutralität waren 1815 nicht selbstgewählt. Nach dem Ende der napoleonischen Kriege ordnete der Wienerkongress Europa neu. Da sich die drei eidgenössischen Gesandten gegenseitig anfeindeten, entschied das «Schweizer Komitee» aus je zwei Russen und Engländern, einem Preussen und ­einem Franzosen ohne sie.

Frankreich hätte gerne die französischsprachigen Gebiete vom Lac Léman bis zum Jura übernommen, unterlag aber mit diesem Wunsch. Als Pufferzone zwischen Frankreich und Österreich wurde im Gebiet von den Alpen bis zum Rhein die Schweiz als neuer Staatenbund geschaffen: Zu den eidgenössischen Landorten wurden die Mittellandstädte von Zug bis St. Gallen, Schaffhausen und Basel samt deren Untertanengebieten geschlagen. Die bisherigen gemeinen Herrschaften Aargau, Thurgau, Waadt und Tessin wurden zu gleichberechtigten Kantonen. Hinzu kamen, gegen dessen erbitterten Widerstand, die Alpenrepublik Wallis und das 1803 neu formierte Graubünden sowie Neuenburg und die französische Stadt Genf. Aus dem bisherigen Vertragsbündel herausgelöst wurden das Veltlin, Chiavenna, Bormio und Mülhausen.

Die auferlegte Neutralität war zwingend, um den Staatenbund ­zusammenzuhalten, denn in der ­Geschichte hatten die eidgenössischen Stände nie alle auf derselben Seite an einem Krieg teilgenommen. Erst nach dem Sonderbundskrieg zwischen den katholischen Ständen, die eine eidgenössische Verfassung und einen Schweizer Binnenmarkt verhindern wollten, setzten die siegreichen protestantischen Städte die Gründung des Bundesstaates mit einer für die damalige Zeit ausserordentlich demokratischen Verfassung durch. Nun konnte sachte eine gemeinsame Heeresorganisation aufgebaut werden. Damit verlor die Neutralität ihre innenpolitische Begründung.

In Diskussionen um die Neutralität wird bis heute das Haager Abkommen von 1907 zitiert, das auf Anregung von Zar Nikolaus II. von Russland geschlossen wurde, um «den allgemeinen Frieden zu wahren und die übermässigen Waffenbestände so weit als möglich zu reduzieren.» Unterzeichnet ist das Abkommen unter anderem von den Kaisern von Deutschland, Österreich und Persien sowie den Königen von Ungarn, Spanien, Griechenland, Serbien und Siam. Zu den wenigen Unterzeichnenden, die heute noch existieren, zählte der Schweizerische Bundesrat.

Sieben Jahre später brach der Erste Weltkrieg aus, 1939 der Zweite. Militärtechnisch wurde der Nahkampf ergänzt mit Waffen, die auf grosse Entfernung wirken. War die Neutralität in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts noch ein wichtiger Bestandteil der Selbstverteidigung, wäre sie heute im Kriegsfall eine Gefahr, denn insbesondere für die Luftabwehr muss weit über die Landesgrenzen ­hinausgedacht werden. (bs)

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