Hinter jeder Tafel steckt ein betroffener Mensch
In Wettswil und vier weiteren Zürcher Gemeinden wird jetzt explizit an Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen gedacht
«Der Mann galt schon mit 38 als ‹Säufer› und ‹liederlicher Kerl›. Bis zu seinem 46. Lebensjahr wurde er in sechs verschiedenen Anstalten behandelt und versorgt.» Das ist der Text einer der kleinen Tafeln, die in Wettswil in nächster Zeit aufgestellt werden (siehe Bild unten). Diese blauen Schildchen sollen an das Unrecht erinnern, das zahlreichen Personen im Zusammenhang mit sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen bis 1981 widerfahren ist (siehe Kasten rechts).
Fünf Pilotgemeinden
Wettswil ist nicht die einzige Gemeinde im Kanton Zürich, die jetzt mit diesen Tafeln in die historische Offensive geht – eine erste hängt bereits am Eingang der Gemeindeverwaltung. Insgesamt fünf Pilotgemeinden (Wald, Stäfa, Uster, Rheinau und Wettswil) haben am Freitag in Rheinau (die dortige Heil- und Pflegeanstalt war eine der grössten psychiatrischen Einrichtungen in der Schweiz, wo Patienten oft jahrzehntelang blieben) den Startschuss gegeben für dieses Projekt der historischen Aufarbeitung der persönlichen Schicksale betroffener Personen – und der Erinnerung daran im öffentlichen Raum.
Regierungsrätin Jacqueline Fehr sagte anlässlich einer kleinen Feierstunde dazu: «Das Leid ist gross und wirkt bis heute nach. Zehntausende Menschen wurden bis in die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts ihren Familien, oft alleinerziehenden Müttern, weggenommen und ‹versorgt›.» Ein kleiner Trost sei es, dass mit der Erinnerungsaktion vielleicht zukünftiges Leid vermieden werden könne.
Bei drei Personen wurde man fündig
In Wettswil hat es laut dem stellvertretenden Gemeindeschreiber Remo Buob relativ wenige derartige Schicksale gegeben. Dennoch hat sich der Gemeinderat auf seine Initiative hin entschieden, bei dem Pilotprojekt mit den fünf Zürcher Gemeinden mitzumachen. Bislang wurde man bei drei Personen fündig. Ihre Geschichten wurden mit der Unterstützung der Historiker David Kobelt und Alena Blättler aufgearbeitet und auf der Website und den Täfelchen fassbar gemacht – aus Datenschutzgründen und mit Rücksicht auf eventuelle Nachfahren im Dorf ohne Klarnamen. «Es ist aber nicht auszuschliessen, dass es weitere derartige Opfer gegeben hat», sagt Buob, der sich bereits vor einigen Jahren für eine Teilnahme Wettswils am Erinnerungsprojekt eingesetzt hatte. «Deshalb ist das heute für uns ein sehr wichtiger Tag», sagte er gegenüber dem «Anzeiger»: «Ich bin stolz darauf, dass wir das geschafft haben.» Gemeindepräsidentin Katrin Röthlisberger war ebenfalls in Rheinau anwesend. Sie sagte: «Ich hätte nie gedacht, dass in unserer Zeit noch solche Sachen gelaufen sind.» Es sei gut, dass jetzt darauf aufmerksam gemacht werde: «Es ist wichtig, dass man bei derartigen Themen sensibel ist. So etwas darf nie wieder passieren.»
Diesen Menschen und ihren Schicksalen kommt auf die Spur, wer den QR-Code auf der kleinen Tafel scannt und auf die Projekt-Website geht. «‹Prachtsbürger› nannte ihn das Waisenamt ironisch. 1957 wird ein junger Mann nach Wettswil heimgeschafft. Für die kleine Gemeinde, mit der er nur auf dem Papier verbunden war, wird er unvermittelt zum Kostenpunkt», steht da zum Beispiel bei einem weiteren Wettswiler Zwangsversorgten. Das dritte Wettswiler Opfer war eine 60-jährige Frau, die sich freiwillig bevormunden liess. Als sie ihren Entscheid rückgängig machen wollte, wurde ihr Antrag abgelehnt, sie wurde administrativ versorgt. Zürcher Gemeinden können sich jederzeit dem Projekt anschliessen. Die Kosten dafür werden auf 2500 bis 5000 Franken für die Gemeinden geschätzt, die historische Aufarbeitung bezahlt der Kanton Zürich. «Es wäre schön, wenn sich nun weitere Gemeinden im Bezirk Affoltern diesem Projekt anschliessen würden», hofft Buob.
www.zeichen-der-erinnerung-zuerich.ch








