«Ich sass bei einem Wehrmachtssoldaten auf den Knien»

Die bewegende Geschichte von Joop Caneel, der den Holocaust überlebt hat

Joop Caneel im Rahmen seines Vortrags an der Sekundarschule Mettmenstetten. (Bild Salomon Schneider)

Joop Caneel im Rahmen seines Vortrags an der Sekundarschule Mettmenstetten. (Bild Salomon Schneider)

Der kleine Joop Caneel als Schüler.
         
         
            
               (Bild zvg)

Der kleine Joop Caneel als Schüler. (Bild zvg)

Am Donnerstag erzählte der niederländischstämmige Jude Joop Caneel in der Sekundarschule Mettmenstetten, wie er den Holocaust überlebt hat, und beantwortete die Fragen der Schülerinnen.

Joop Caneel ist ein rüstiger Senior, mit fester Stimme und immer noch geschmeidigen Bewegungen. Mit ruhiger Stimme schildert er den Schülerinnen und Schülern der Sekundarschule Mettmenstetten seine Kindheit: «Ich bin 1939 in Amsterdam geboren. Die Niederlande waren im 2. Weltkrieg neutral. Deshalb fühlten sich die Juden dort auch nach Kriegsbeginn noch sicher.» Deshalb wurde auch die Familie Caneel vom Blitzkrieg überrascht. Nach dem deutschen Einmarsch in die Niederlande – vom 10. bis zum 17. Mai 1940 – durften Juden am Anfang weiterhin gewissen Berufen nachgehen und wurden nicht in Ghettos gesperrt. Sie mussten jedoch den «Judenstern» tragen und es gab ­jeden Tag Verhaftungen und Deportationszüge in Konzentrationslager.

«Wir fühlen uns sicher, weil die Niederlande neutral waren»

Joops Vater war Leiter eines jüdischen Waisenheims. Drei Mal wurden Joop Caneel und seine Mutter auf der Strasse aufgegriffen und ins Transitzentrum für Deportationen gebracht. Zweimal konnten sie durch Bestechung eines Wachmannes entkommen.

Das dritte Mal standen sie bereits auf dem Bahnsteig und mussten in den Deportationszug einsteigen, als sich die Mutter ohnmächtig stellte und mit ihrem Kind in ein Krankenhaus gefahren wurde. Mitte 1943 waren fast alle holländischen Juden deportiert worden und die Caneels gaben den kleinen Joop einer studentischen Untergrund-Organisation in Obhut. Diese vermittelte Joop an eine bäuerliche Pflegefamilie. Dort wurde er als Überlebender des Angriffs auf Rotterdam ausgegeben, der seine Eltern verloren hatte. Die Eltern lebten währenddessen über mehrere Jahre in einem winzigen Dachzimmer bei einem Metzger. Sie verliessen das Zimmer erst nach Kriegsende wieder. Gut erinnern kann sich Joop Caneel an den Hungerwinter 1944: «Die Region stand unter kanadischem Beschuss und wir verbrachten viel Zeit im Luftschutzkeller. Zu essen gab es monatelang nur Polenta. Ich esse bis heute keine Polenta mehr. Ein besonders eindrückliches Erlebnis war, als ein Wehrmachtssoldat bei meinen Pflegeeltern zu Besuch kam, ich ihm auf den Schoss gesetzt wurde und ein Geschenk von ihm erhielt. Hätte er gewusst, dass ich Jude bin, hätte dies mein Todesurteil bedeutet. Als vermeintlicher Niederländer erhielt ich Geschenke.»

«Nach dem Krieg erkannte ich meine Eltern nicht mehr»

Joop Caneel lebte bis mehrere Monate nach Kriegsende bei der Bauernfamilie, denn die Suche nach ihrem Sohn gestaltete sich für seine Eltern schwierig: «Als sie mich holen wollten, erkannte ich sie nicht und versteckte mich hinter meinem Ziehvater. Es war ein schwieriger Abschied, denn meine Ziehfamilie hatte mich lieb gewonnen und ich sie natürlich auch. Deshalb wollte ich nicht mit diesen für mich fremden Menschen mitgehen.»

Nach dem Krieg leitete sein Vater wieder ein Waisenhaus, Joop ging zur Schule, absolvierte die Matura und anschliessend ein Studium in Elektrotechnik in den 1960er-Jahren. 1970 kam er in die Schweiz: «Ich kannte den Direktor von Braun-Boveri (heute ABB Anm. d. Red.) und er wollte mich einstellen. Auch vor der Abstimmung der Schwarzenbach-Überfremdungs-Initiative gab es jedoch keine Kontingente mehr für Ausländer. Schliesslich ist er nach ­Aarau gereist und hat zwei Sondergenehmigungen ausgehandelt – eine davon für mich.» Heute lebt Joop Caneel mit seiner Schweizer Frau in Kilchberg.

Fragen Mettmenstetter Schülerinnen an Joop Caneel

Hatten sie je Rachegedanken?

Ja, aber nur im Privatleben. Die nächsten Generationen dürfen nicht für die Verbrechen ihrer Eltern bestraft werden.

Werden Sie heute noch an diese Zeit erinnert?

Als ich die Bilder des russischen Einmarsches in die Ukraine gesehen und die Fliegeralarm-Sirenen gehört habe, fühlte ich mich wieder in den Winter 1944 zurückversetzt und lebte das Trauma nochmals durch.

Praktizieren Sie den jüdischen Glauben noch?

Ja, aber nicht orthodox. Wir leben koscher und leben auch die jüdische Kultur. Mein Sohn ist jedoch orthodox. Ich lebe pragmatisch.

Wer wusste damals von der Judenvernichtung?

Die Regierungen der Alliierten haben es gewusst und Fotos von Auschwitz gemacht. Weshalb Auschwitz oder mindestens die Zuglinien dorthin nicht bombardiert wurden, wurde nie geklärt.

Weshalb haben sich die Juden nicht gewehrt?

Ich weiss es nicht. Ich bin überfragt.

Haben Sie persönlich je Antisemitismus erlebt?

Nein, nach dem Krieg nicht mehr. Auch in der Schweiz – bei der Arbeit – wussten alle, dass ich Jude bin. Dies war aber nie Thema.

Was möchten Sie den Mettmenstetter Schulkindern mitgeben?

Macht nur Sachen, die ihr vor euch selbst verantworten könnt. Ihr könnt eure Taten nie auf andere abschieben oder sie dafür verantwortlich machen.

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