Mauerlängs durch die Nacht: Schweizer Lyrik

Geschrieben werden eine Menge Gedichte. Gelesen eher wenige. Es mangelt an Zeit für Zuwendung und Vertiefung. Das kleine, nachtblaue Büchlein von Florian Bissig mit dem mauerlängs rennenden, weissen Hund auf dem Cover bietet Begleitung zum Erleben von Gedichten als Inseln im Alltag.

Gedichte sind heute gleichzeitig in und out. Immer mehr Menschen drücken ihre Emotionen und Gedanken mittels Gedichten aus, aber immer weniger nehmen sich die Zeit, Gedichte zu lesen. Dem Journalisten und Kritiker Florian Bissig aus Affoltern ist es ein Anliegen, Lyrik wieder mehr Bedeutung zu verschaffen.

Er schrieb regelmässig Lyrik-Beiträge für die «Schweiz am Wochenende». Diese gesammelten «Lyrik-Kolumnen» wurden nun überarbeitet und zwischen Buchdeckeln im Limbus Verlag herausgegeben. Das Cover mit dem mauerlängs rennenden, weissen Hund auf nachtblauem Grund macht neugierig.

Der weisse Hund

Kaum zwanzig Jahre ist Silja Walter alt, als sie das Gedicht «Mein kleiner weisser Hund und ich» schreibt, von dem das Buchcover inspiriert ist. Es erzählt von der Suche nach dem Ich und nach einem Du – welches Florian Bissig auch als ein überirdisches Gegenüber interpretiert. Vier Jahre nach dem Erscheinen ihres literarischen Debüts trat die junge Dichterin ins Kloster Fahr ein, wo sie 63 Jahre verbrachte.

Während man das Gedicht liest, fühlt man Trauer, Einsamkeit, Welt-Verlorenheit. Damit bleibt man mit dem Buch «Mauerlängs durch die Nacht» aber nicht allein. Auf zweieinhalb Buchseiten führt Florian Bissig kurz ins Leben, die Zeit und das Umfeld der Autorin ein. Er interpretiert das Gedicht mit eigenen Worten und aus einer frischen, eigenständigen Perspektive heraus. Man versteht nun einiges – und es tauchen wiederum neue Fragen auf. Denn Interpretation meint Auslegung, Übersetzung. Auslegungen sind nie in Stein gemeisselte Fakten. Und auch Übersetzungen spiegeln nicht nur den Verfasser, sondern auch den Interpreten.

Übersetzer

Der Kulturjournalist Florian Bissig arbeitet tatsächlich auch als Übersetzer im eigentlichen Sinn. Gegenwärtig arbeitet er an der Übersetzung der Lyrik des englischen Dichters Samuel Taylor Coleridge (1772–1834). Er ist Coleridge-Experte, denn nach dem Lizenziat in Philosophie promovierte er in Englischer Philologie mit einer Studie zu diesem englischen Romantiker. Einzelne Übertragungen von Coleridge-Gedichten wurden bereits in Fach- und Tagesmedien publiziert. Für seine Arbeit erhielt Florian Bissig einen Werkbeitrag des Kantons Zürich zugesprochen.

Gedichte vom Englischen ins Deutsche zu übertragen heisst weit mehr als einzelne Wörter zu übersetzen und ist enorm anspruchsvoll. Nicht nur Inhalt und Tonlage, auch Metrik und Rhythmus müssen stimmen. Man muss geduldig und präzis arbeiten und über einen riesigen aktiven Wortschatz verfügen. Zugleich ist für das Finden von Lösungen Kreativität unabdingbar.

Mauerlängs

Im Word-Korrekturmodus schlagen unter «mauerlängs» sofort rote Wellen Alarm. Das Wort gibt es nicht, aber «gibt es nicht» gibts nicht – auch in der Sprache. Paul Haller formuliert in seinem Gedicht «Träume»: «Durch der Nächte stille Schlummergassen schleich ich mauerlängs mit scheuem Schritte…». Einige Leser springt vielleicht die Zeile «Und die Trauer um gebrochne Flügel» an. Florian Bissig erkennt die Rondostruktur des Gedichtes, er nimmt zunächst das «köstliche Wort Schlummergassen» auf und bringt schliesslich Sigmund Freuds Aussage «Das Ich ist nicht Herr in seinem Haus» ins Spiel. Haller, der Therapieresistente, rät in seinem Gedicht: «Denn vor Träumen hüte sich die Seele».

Gedichte sollen einen Dialog evozieren. Zwischen Dichter und Leser, aber auch unter Lesenden. Eine gehaltvolle Alternative zum sonntagabendlichen «Tatort» bestünde darin, einen gemütlichen Abend zu zweit mit dem Lesen und Interpretieren von Gedichten zu verbringen.

Hinterrücks zur Lyrik verführen

Florian Bissig versteht es, Lyrik-affine und bisher Lyrik-Abstinente zum Lesen und zum Nachdenken und Nachfühlen von Gedichten zu verführen. Seine Texte sind verständlich geschrieben, aber alles andere als oberflächlich. Er ist geschult durchs Übersetzen. Kein Wort ist überflüssig, keines am falschen Ort. Es sind Aussagen über Gedichte, die denken und nachspüren machen – sich selbst draussen lassen geht nicht. Mit viel Fachkompetenz, höchster Sprachkompetenz, Einfühlsamkeit und Respekt vor den Dichtern nimmt er Texte von Autoren wie Eugen Gomringer, Mani Matter, Franz Hohler, Robert Walser, Kurt Marti, Gerhard Meier und anderen Schweizer Dichtern aus hundert Jahren auf. Zurück zum weissen Hund: «Ein flauschiges Stück beseelter Natur, bekommt auch er am Ende eine Art Kuss», heisst es am Schluss der Interpretation von Silja Walters Gedicht. Wahrlich, das Buch ist ein ideales Geschenk an andere – und an sich selbst.

Mauerlängs durch die Nacht – Kleine Anthologie der Schweizer Lyrik, Florian Bissig, Limbus Verlag, 2018, 96 S., ISBN 978-3-99039-131-0, 15 Franken.

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