Musikalisches Plädoyer für mehr Empathie

Im «lamarotte» trat Pianist und Komponist Vadim Neselovskyi mit seinem Werk über den Ukraine-Krieg auf

Pianist und Komponist und musikalischer Grenzgänger: Vadim Neselovskyi. (Bild Christine Häusermann)

Der Jazzpianist Vadim Neselovskyi, der zusammen mit internationalen Jazz­musik-Grössen wie Gary Burton, Randy Brecker und Pat Metheny auf der Bühne steht, ist im Kulturkeller lamarotte, im Provinzstädtchen Affoltern am Albis, kein Unbekannter. «Dä Vadim, ja dä isch scho e paarmal Mal da gsii», erzählt ­Geschäftsführerin Isabelle Schaetti. Am vergangenen Freitagabend stellte der Komponist sein neustes Werk «Ukrainian Diary» vor. Das «Ukrainische Tagebuch» ist eine Suite in zehn Sätzen, deren erster und letzter Satz eine friedliche und hoffnungsvolle musikalische Klammer um das verstörende Kriegsgeschehen in Satz zwei bis neun bildet. Am Konzertabend vom vergangenen Freitag wurden in den Nachrichten wieder 20 Tote durch russischen Raketenbeschuss in Odessa gemeldet.

Ukrainische Geflüchtete, die einen Deutsch-Konversationskurs bei der JobWerkstatt, dem Arbeitsintegrationszentrum für Menschen mit Fluchthintergrund in Mettmenstetten besuchen, konnten das Konzert gratis besuchen, der Kulturkeller lamarotte und die JobWerkstatt haben sich auf einen reduzierten Preis geeinigt, den Letztere übernommen hat.

Die Musik sprechen lassen

Bei der Begrüssung sagt Vadim Neselovskyi, es sei ihm wichtig, seine neuste Musik zu präsentieren, es gehe ihm in seiner künstlerischen Aussage aber nicht nur um die Ukraine. «Mir geht es persönlich um Empathie, wenn ich selber mehr Empathie hätte und wir alle, wäre die Welt besser.» Im abgegebenen Programm seien die verarbeiteten Themen der einzelnen Sätze zwar beschrieben, er empfiehlt aber die Musik sprechen und eigene Bilder kommen zu lassen, bei denen vielleicht nicht die Ukraine im Vordergrund stehe. Für die Aufführungen von «Ukrainian Diary», konnte der Komponist die Bratschistin Kateryna Suprun, den Geiger Viktor Ivanov und die Cellistin Mariia Mohylevska gewinnen, die sich zum Streichtrio «Mriya» (Traum) zusammengeschlossen haben.

Das musikalische Tagebuch beginnt vor dem 24. Februar 2022. Idyllische, weiche Töne, Vögel zwitschern, eine helle aber eher melancholische Klangwelt, die durch wenige Dissonanzen gestört wird. In Satz zwei und drei fährt die tödliche Gewalt klanghart, dissonant und laut ein, russische Panzer fahren auf, Raketenbeschuss der Hauptstadt Kjiw – ein wildes Durcheinander von Tönen, die sich ständig wiederholenden hohen Geigentöne schmerzen und gehen unter die Haut, das Radio zu Hause würde man ausmachen. «Doch keine so gute Idee, die geflüchteten ukrainischen Bekannten zum Abend einzuladen», denkt sich die Schreibende, die bei der JobWerk­statt einen Deutsch-Konversationskurs für Ukrainer moderiert und spürt, wie ihre Sitznachbarin starr und steif wird. Als nicht betroffene Zuhörerin hat man schon Mühe, diese Klangwelt auszuhalten, wie schwierig muss es erst für ­Ukrainer sein, die ihre Familien, ihre Landsleute dem Kriegsgräuel ausgesetzt wissen.

Von Heldenmut und Würde

Satz vier vertont Selenskis Heldenmut und seine bereits legendären Worte «Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Munition». Die Erstarrung durch die erlittene Gewalt löst sich in ukrainischem Heldenmut und Gegenwehr auf, die den Komponisten «zutiefst beeindruckt» hat. Er schafft im fünften Satz einen Bezug zu George Orwell, der in «1984» die Gefahr des Totalitarismus zum Thema machte. Und klingt da nicht auch das Kinder-Schlaflied «Guten Abend, gut Nacht, ihr Englein erwacht ... morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt ...» an? Vadim Neselovkyi kam als 17-Jähriger mit seinen Eltern von Odessa nach Deutschland. Er beschreibt, wie die Eltern weiterhin russisches Fernsehen geschaut haben, wo die Ukraine einer Art russischer Dauerkritik ausgesetzt gewesen sei, die auch vor Drohungen nicht zurückschreckte. Kateryna ­Suprun spielt ein eindringliches Solo auf ihrer Viola, es klingt, als wäre eine Seite gerissen, Mariia Mohylevska nutzt ihr Cello auch als Trommel, der Bogen hämmert harte Rhythmen aufs Holz – das Trio «Traum» intoniert heute ­einen Alptraum.

Moskau tanzt Tango

«Moskau tanzt, als wäre nichts passiert», heisst der siebte Satz. Die fulminante Musik im Tango-Rhythmus nimmt Fahrt auf, eine schräge und misstönende Höllenfahrt mit quietschenden Instrumenten und schmutziger Flageolett-Notation. «Endlose Trauer und unglaublich starke, zurückhaltende Würde» bei ­einer Beerdigung fängt der Komponist im achten Satz «Lviv Funeral» ein. Im Programm zitiert er eine Strophe aus Rudyard Kiplings Gedicht «If» mit dem Aufruf «Hold on». Die Strophe würde «den Geist und die unbeschreibliche Energie der Menschen in der Ukraine» treffend beschreiben.

«Ver-rückte Musik»

Mit der hoffnungsvollen «Freiheitsmelodie» endet die Suite. Grosser Applaus belohnt die Musikerinnen und Musiker für ihre leidenschaftliche Darbietung und löst das Publikum aus einer Spannung. Es sei schwer, eine passende Zugabe nach so einem Konzert zu spielen, meint Vadim Neselovskyi. Das Publikum signalisiert Verständnis. Neselovskyi entscheidet sich dann aber für eine kleine Zugabe von Johann Sebastian Bach, die erleichtert aufgenommen wird und deren harmonische Töne die musikalische Unordnung im aufgewühlten ­Innern der Zuhörer wieder etwas ­zurechtrückt.

Auch von den ukrainischen Zuhörenden fällt die Anspannung ab, froh ein paar Sätze darüber zu äussern: «Ja, es war sehr schwer, diese Musik zu hören.» Stolz sind sie, auf ihre Landsleute, die die Musik komponiert und auf diesem hohen Niveau gespielt haben. Sie applaudieren kräftig. Eine junge Ukrainerin, die bei den Sätzen zwei und drei weinte, sagt: «Manchmal, diese Musik war verrückt, ohne Komplimente; aber dieser Krieg ist auch verrückt.» Sie will von den Schweizerinnen am Tisch wissen, was sie beim Anhören dieser Musik empfunden haben. «Die Musik ist körperlich eingefahren und mir ist nochmals viel bewusster geworden, wie schwer dieser Krieg für euch ist. Ich habe eure Gesichter gesehen und mitgelitten», antwortet Barbara Meister. Sie ist für die Bildung bei der JobWerkstatt verantwortlich. Beim Publikum ist Vadim Neselowskyis Wunsch nach mehr Empathie in Erfüllung gegangen. Schade, hört Wladimir Putin diese Musik nicht.

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