«Nicht arbeiten können, das ist schwierig!»
Annähernd 80000 Ukrainer und Ukrainerinnen haben in der Schweiz Zuflucht gefunden. Einer von ihnen ist Pavlo Aliferets, der mit Gattin Tetyana und den Kindern Illia (12-jährig) und Kateryna (6-jährig) seit letztem Sommer in Affoltern wohnt und bei den Senioren Fussball spielt.

Wir treffen uns vorerst in einer kargen Garderobe im «Mooshüsli», ehe wir ins gemütlichere und wärmere Mooshüsli-Restaurant wechseln können. Begleitet wird Aliferets von seiner Schwester Oksana, die als eloquente Übersetzerin fungiert. Doch wie kam die Familie von Pavlo Aliferets nach Affoltern? Es ist die Geschichte einer Flucht, wie viele seiner Landsleute erlebt haben, doch mit einem erheblichen Unterschied. Seine Frau lebte zusammen mit den beiden halbwüchsigen Kindern in der Zentral-Ukraine, in der Provinz Winnyzia, als am 24. Februar 2022 russische Truppen in die Ukraine einfielen. Aliferets arbeitete derweil als Installateur von technologischen Rohrleitungen und Metallkonstrukteur im fernen Sibirien, nahe von Irkutsk. Bilder von endlosen Autokolonnen, welche sich in lähmender Langsamkeit von der Hauptstadt Kiew aus panikartig Richtung Grenzen im Westen und Süden bewegten, erschütterten damals die Fernsehzuschauer. Auf dringendem Appell von Aliferets Schwester schlossen sich auch Pavlos Frau mit ihren beiden Kindern und seiner Mutter dem Treck an. Autos stauten sich vor Kontrollstationen und Tankstellen, wo das knappe Benzin zu weiteren Verzögerungen führte. Endlich, am 28. Februar 2022, erreichte die Familie nach viertägiger zermürbender Fahrt über Moldawien, Rumänien, Ungarn und Österreich die Schweiz. Vom Asylzentrum in Zürich ging es weiter nach Lyss bei Bern, wo die Familie in einer Zivilschutzanlage des Bundes untergebracht wurde. Von dort aus führte die Odyssee weiter nach Prêles, im Berner Jura gelegen, nahe von Biel, und schliesslich fand sich eine Familie in Zürich, welche das Untergeschoss ihres Hauses der Flüchtlingsfamilie zur Verfügung stellte. Gemäss Schweizer Flüchtlingshilfe sind derzeit noch immer rund 35 Prozent der Schutzsuchenden bei Gastfamilien untergebracht. Mit den grosszügigen Gastgebern pflegen die Aliferets weiterhin Kontakt. Nach dreimonatigem Aufenthalt folgte Affoltern, wo ihnen eine geeignete 4-Zimmer-Wohnung zugewiesen wurde. Bei all den Stationen war auch Aliferets dabei, der kurz nach der Invasion der Russen mit Bus und Flugzeug über St. Petersburg und Estland ebenfalls die Schweiz erreichte und sich mit der übrigen Familie vereinigte.
Die Integration macht Fortschritte
Nun in der neuen Bleibe im Säuliamt lebt sich die Familie immer besser ein. Wie die meisten geflohenen Landsleute verfügt die Familie über den Schutzstatus S, was ihr das Arbeitsrecht zubilligt. (Stand heute gilt dieser Schutzstatus bis März 2024.) Doch in der Wirklichkeit harzt es, lediglich knapp 15 Prozent sind erwerbstätig, Pavlo Aliferets gehört trotz emsiger Suche nach Arbeit nicht dazu. Gründe sind wohl die Sprachbarriere und die Tatsache, dass viele Ukrainer so schnell als möglich zurück in ihre Heimat möchten, was Arbeitgeber manchmal zögern lässt. Er vermisst seinen Sohn aus erster Ehe, der weiterhin in der Ukraine lebt, um Pavlos Vater zu betreuen. (Normalerweise dürfen Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren das Land nicht verlassen.) Immerhin besuchen Aliferets und seine Frau während fünf Tagen pro Woche jeweils täglich drei Lektionen einen Deutsch-Intensivkurs. Seine ursprüngliche Arbeit im Rohrbau führte ihn auf Baustellen verschiedener Länder und ausserdem bildete er sich in dieser Branche stets weiter. Nun jedoch ist er zur Untätigkeit verurteilt: «Nicht arbeiten zu können, abhängig von der Sozialhilfe zu sein, das ist für mich schwierig zu ertragen», sagt seufzend der sportliche 42-Jährige und betont, dass er auch bereit wäre, eine Arbeit anzunehmen, die nicht seiner gelernten Tätigkeit entspräche.
Inzwischen haben sich vor allem seine Kinder gut integriert. Der Junge wird in der Primarschule unterrichtet und hat Anschluss bei den D-Junioren des hiesigen Fussballclubs gefunden, das Mädchen besucht den Kindergarten. Allerdings bildet die Schwerhörigkeit von Illias, gepaart mit der neuen Sprache und der Schule, eine zusätzliche Herausforderung. Ihr Vater hat sich den Senioren des FCA angeschlossen – seine bevorzugte Position ist im Mittelfeld. Seine Vergangenheit als professioneller Fussballer bei verschiedenen ukrainischen Mannschaften und seine damalige Trainertätigkeit hilft ihm dabei, sich zu integrieren.
Wie gut ist der Fussball in der Ukraine im Vergleich zur Schweiz? Pavlo will sich nicht auf eine Rangliste festlegen, erwähnt jedoch, dass die Förderung des Nachwuchses auch in der Ukraine grosse Fortschritte gemacht habe. Das äussere sich daran, dass zahlreiche Talente im Ausland spielten. Fussball sei sehr populär, doch auch Ringen und Boxen gehörten zu den Nationalsportarten der Ukraine, sagt er.
Sicher, sauber, organisiert
Trotz der Hilfsbereitschaft, welche Aliferets erfährt, vermisst er seine Heimat. Wie gerne würde er in seinem Haus leben, wofür er so viel Zeit und Geld investiert hat. Die unsichere politische Lage belastet ihn und die Schreckensmeldungen reissen nicht ab; auch er hat ehemalige Fussballkollegen auf dem Schlachtfeld verloren. Was hält er von Präsident Selenski? Sein Urteil wirkt vorsichtig: Einerseits anerkennt er ihn als Leuchtturm, der unbeirrbar die Widerstandskraft der Ukraine hochhält. Ob das Staatsoberhaupt jedoch auch in Friedenszeiten dermassen überzeugend agieren würde, dazu wagt er keine Prognose.
Was gefällt ihm an der Schweiz? «Sauberkeit, Sicherheit, alles ist geregelt!», seine Antwort bestätigt das Klischee. Ausserdem bewundere er die Natur und typische schweizerische Speisen wie Fondue und Raclette munden ihm inzwischen sehr. Trotzdem kommen ukrainische Nationalgerichte wie Bortsch (Gemüsesuppe) oder Varenyky (Teigtaschen), abgerundet durch einen Quarkkuchen, immer wieder auf den Tisch und halten die Sehnsucht nach seiner Heimat wach.
Wird er mit seiner Familie zurückkehren? Aliferets räumt ein, dass für seine Kinder die Zukunftsaussichten in der Schweiz vermutlich besser sind, doch sein Herz schlägt für die Ukraine und sehnlichst hofft er auf ein baldiges Ende dieses unseligen Krieges. «Herzlichen Dank für die Unterstützung, die Schweiz ist ein wunderschönes Land», mit diesen Worten voller Dankbarkeit verabschiedet er sich in eine ungewisse Zukunft.