Nicht reich, aber reich an Begegnungen
Der Affoltemer Surprise-Verkäufer Urs Habegger trat am «Rüüss-Abig» des «Anzeigers» als Gastreferent auf

«Surprise, Surprise!
Wer het no keis? Wer will no eis?
Surprise, Surprise!»
Mit diesen Worten stieg Urs Habegger am vergangenen Donnerstag am «Rüüss-Abig» in sein Gastreferat ein. Und wer weiss, vielleicht sind es jene Sätze, die der 67-Jährige in seinem Leben bis heute am häufigsten wiederholt hat. Seit dem Jahr 2008 steht er mehrmals pro Woche in der Bahnhofsunterführung in Rapperswil und verkauft dort das Strassenmagazin Surprise. Mehr als 90000 Exemplare waren es bisher. Mehr als 90000 Mal hatte jemand noch keins und wollte noch eins.
Dass aus ihm einmal ein Verkäufer würde, zeichnete sich in den 70er-Jahren noch nicht ab. Ins Berufsleben stieg Urs Habegger als Schriftsetzer ein. Nach der Lehre bildete er sich zum Reprofotografen und zum Lehrlingsausbildner weiter und arbeitete während Jahren in verschiedenen Funktionen für die Zürichsee-Zeitung.
«Man erwacht nicht eines Morgens, womöglich eines sonnigen Morgens, und sagt aus heiterem Himmel oder aus einer unbestimmbaren Laune heraus, ohne Not und Dringlichkeit: ‹So, mir reichts. Ich hänge meinen Job an den Nagel. Ich will Surprise-Verkäufer werden›.», sagte Habegger vor dem Publikum. Das sei auch nicht die Idee, die hinter «Surprise» stecke: «Erst in der Not, die viele Gesichter und Gewänder trägt, zieht man in Erwägung, sich bei Surprise zu melden.»
Der Bruch in Urs Habeggers Leben geschah im Jahr 2003, nach einer Augen-Operation, die nicht verlief wie geplant. Zunächst hoffte Urs Habegger, dass eine Rückkehr in seinen Beruf trotzdem möglich sein würde. 2005 musste er einsehen, dass daraus nichts wird. Was also tun? Das wusste Habegger nicht sofort, immerhin aber, was für ihn auf keinen Fall in Frage kam: «Von einer Invalidenrente abhängig zu sein.»
In Bahnhofsunterführungen blühen keine Schneeglöckchen
So kam es, dass sich Urs Habegger im Jahr 2006 mit seiner Gitarre in die Bahnhofsunterführung in Rapperswil stellte. Ab sofort war er Strassenmusikant, bis er zwei Jahre später, an der selben Stelle, sein erstes «Surprise» verkaufte. Und seither nicht mehr damit aufgehört hat.
Auch dem Singen ist er treugeblieben: Zweimal griff er während seines Referats zur Gitarre und trug selbstironische Zeilen vor, mit denen er im Publikum einige Lacher abstaubte. Sowieso – die Bühne! Dort hatte Urs Habegger während seiner Zeit als Strassenmusikant bereits mit seinen Kinderliedern und zuletzt während Lesungen gestanden, und es war ihm anzumerken, dass er sich vor Publikum wohl fühlt.
Mit rhetorischem Geschick erzählte er vom Mädchen, das ihn stets von weitem grüsst und eines Tages fand: «Du bisch mis Maa». Was der Mutter sichtlich peinlich gewesen sei.
Er erzählte von der Frau, die ihm jahrelang jede Ausgabe abkaufte und eines Tages sagte, das gehe nun nicht mehr: Leider fehle nun die Zeit zum Lesen. Sie habe jetzt eine Katze.
Er erzählte von der jungen Mutter, die eines Tages in rasantem Tempo direkt auf ihn zusteuerte, den Kinderwagen abstellte und sagte: «Ich muss dringend aufs Klo.» «Hoffentlich», habe er gedacht, «kommt die gute Frau wieder. Was mach ich sonst mit dem Kind?»
Es sind Pointen, die heute auf der Bühne ein Publikum finden, verwaschen von der Zeit. Trotzdem schimmert durch sie hin und wieder noch der pickelharte Verkaufsalltag auf der Strasse. Während Jahren stand Urs Habegger täglich zwölf Stunden in Rapperswil. An sechs Tagen pro Woche. Vom Verkauf eines Hefts bleiben ihm drei Franken. «Häsch du kei Geld?», fragte ihn ein Bub beim Vorbeilaufen.
«Eine Frau sagt mir, an der Sonne blühen schon die ersten Schneeglöckchen, ich sage ihr, hier unten in der Bahnhofsunterführung blühen sie noch nicht.»