«Non, je ne regrette rien»

Eine Hommage zum 110. Geburtstag der unvergesslichen Edith Piaf

Yves Montand und Edith Piaf im Film «Étoile sans lumière», wo Piaf die Hauptrolle spielte (1946). (Bild zvg)

Yves Montand und Edith Piaf im Film «Étoile sans lumière», wo Piaf die Hauptrolle spielte (1946). (Bild zvg)

Edith Piaf führte ein bewegtes Leben und wurde zur bestbezahlten europäischen Sängerin ihrer Zeit.

Edith Piaf führte ein bewegtes Leben und wurde zur bestbezahlten europäischen Sängerin ihrer Zeit.

Charles Dumont mit Edith Piaf am Boulevard Lannes, Dezember 1961. (Bilder Association des amis d’Edith Piaf)

Charles Dumont mit Edith Piaf am Boulevard Lannes, Dezember 1961. (Bilder Association des amis d’Edith Piaf)

Zugegeben, persönlich habe ich Edith Piaf nie kennengelernt. Ich denke auch nicht, dass sie einst das Säuliamt besuchte. Wenn ja, hätte sie es bestimmt nicht mehr gewusst. Wieso ich trotzdem über die gebürtige Edith Giovanna Gassion schreibe? Bei aller Bescheidenheit denke ich, dass ich sie so gut kenne, als wären wir uns hin und wieder begegnet.

Meine Eltern schickten mich 1981 nach Genf. Französisch sollte ich lernen und Pralinen bei der Confiserie Rohr einpacken. Es hat mir grossen Spass gemacht. Meine Arbeitskollegen waren nicht viel älter als ich und aufgeschlossen. Das Radio lief den ganzen Tag. Der Sender «Couleur Trois» war angesagt. Immer moderne Musik. Mit einer Ausnahme – und dies tagtäglich – Edith Piaf. Wenn ein Lied von ihr erklang, wurde es in der Backstube still. Für mich unpassend. Ich verstand es nicht, warum die anderen immer so andächtig hinhörten. Mit etwas Selbstvertrauen und endlich auch dem einen oder anderen geläufigen französischen Wort, erlaubte ich mir, eine Frage in die Runde zu werfen: «Was soll das eigentlich immer mit dieser Piaf?» Ich wurde scharf zurechtgewiesen. «Kennst du Piaf? Wohl kaum, also schweig, bis du es verstehst.» Ich verstand sehr schnell.

Beim nächsten Besuch bei meinen Eltern erzählte ich ihnen von diesem Wortwechsel. Mein Vater sagte mir, dass er am vermeintlichen Todestag von Edith, am 11. Oktober 1963, in Paris gearbeitet habe. Er werde es nie vergessen, wie die Stadt von einem Augenblick auf den anderen in tiefe Trauer versank. Nichts ging mehr, Läden wurden kurzerhand geschlossen, Menschen trafen sich auf den Strassen.

Vermeintlicher Todestag? Vorerst nur so viel: Es musste so sein, dass Edith Piaf, die Pariser Göre, in ihrer Stadt das Zeitliche segnete. Sie wollte es auch so. Zudem waren bereits Jahre zuvor die Filmrechte über ihr Leben verkauft worden. Darin wurde festgelegt, wo sie zu sterben hatte.

Jedenfalls hat mein Vater so andachtsvoll über diese kleine grosse Frau gesprochen, dass ich bereits am anderen Tag meine erste Biografie über sie gekauft habe. Heute habe ich alle deutschsprachigen Ausgaben schon längst verschlungen. Das erste Buch war innert Stunden gelesen und ich war am nächsten Tag in Genf der Erste, der ruhig wurde, als die Stimme der Piaf erklang.

Diese Frau zog mich in ihren Bann. Ich wollte alles über sie wissen, ging jedes Jahr nach Paris, suchte ihre Plätze auf, legte auf dem Père Lachaise Blumen für sie nieder. Ich wurde in die «Association des amis d’Edith Piaf» aufgenommen. Dort traf ich Lebensgefährten, Lebensgefährtinnen, sogar ihre Halbschwester Denise Gassion. So lernte ich die Piaf kennen, die zu meinem grossen Vorbild wurde.

Nicht wegen ihrer Musik, weil ich erst später bemerkte, welche Leidenschaft, welche Emotionen, welche Kraft in ihren Liedern steckt, wie sie sich jedem einzelnen Lied völlig hingab. «Ich kann nur Lieder singen, mit denen ich mich absolut identifizieren kann», so Edith Piaf.

Nein, es war viel mehr ihre Ausstrahlung und ihre Einstellung zum Leben.

Bemuttert im Bordell

Die ersten Monate erlebte die kleine Edith im damals ärmlichen Quartier Belleville. Dort wurde sie nicht auf der Strasse geboren, wie immer gerne behauptet wird und wie es noch heute an der Hauswand unter dem Nummernschild 72 an der Rue de Belleville steht. Ihre Mutter Annetta Giovanna Maillard (italienisch-marokkanische Abstammung), eine unter dem Namen Line Marsa lokal bekannte Strassensängerin, schaffte es hochschwanger gerade noch knapp, aber rechtzeitig ins nahe gelegene Tenon Hospital.

Ihr Vater, der Strassenakrobat Louis Alphonse Gassion, den sie ein Leben lang verehrte, brachte sie mit zwei Jahren zu seiner Mutter, die ein Freudenhaus in Bernay, in der Normandie betrieb. «Ich hatte viele Mütter, die sich um mich kümmerten und mich behüteten», mehr sagte Edith Piaf nie dazu. Der Vater holte sie erst zu sich zurück, als sie genug alt war, um ihn zu begleiten und mit ihm auf der Strasse zu leben. Hin und wieder gab es auch ein längeres Wanderzirkus-Engagement. Wenigstens da ein warmer Unterschlupf. Da sie eher die Talente ihrer Mutter erbte, liess sie es mit der Akrobatik bleiben und besann sich auf das Singen. «Ich habe schon früh meine Stimme unbewusst trainiert. Die ist so kräftig, weil ich auf mich aufmerksam machen musste und gleichzeitig den Strassenlärm übertönen wollte.»

Kaum fünfzehnjährig löste sich Edith von ihrem Vater. Sie wusste, dass mehr Geld für sie beide übrigblieb, wenn sie allein an den diversen Ecken der Pariser Innenstadt sang. Allein? Allein konnte Edith Piaf nie sein. Ihrer ersten Liebe, Louis Dupont, schenkte sie schon mit 18 Jahren eine Tochter. Marcelle starb mit zwei Jahren an Gelbsucht. Im selben Jahr, 1935, entdeckte sie der Betreiber eines noblen Cabarets, Louis Leplée, auf der Strasse. Er engagierte sie auf der Stelle für sein Lokal an einer Seitengasse der Champs-Élysées. Er nannte sie «La môme Piaf», der kleine Spatz.

Das Spatzenmädchen besass bei der Premiere kein anständiges Kleid. Aber «tout Paris» wollte sie im «Gerny’s» sehen. Persönlichkeiten wie die Mistinguett, Fernandel, Marie Dubas oder Maurice Chevalier gaben sich dort die Klinke in die Hand. «La môme Piaf» wurde gefeiert, ihr Engagement um über sechs Monate verlängert. Und doch stand sie plötzlich wieder vor dem Nichts. Ihr Entdecker und Ziehvater wurde in seiner Wohnung das Opfer eines Raubmordes. Der Verdacht richtete sich schnell auf Edith. Sie kam von der Strasse, verkehrte im Milieu. Ihr Umfeld beschränkte sich auf Gelegenheitsdiebe, Zuhälter und Gewalttäter. Die Polizei war überzeugt, dass der Täter aus diesem Umfeld stammen musste. Es war die falsche Fährte, trotzdem war der Ruf von Edith ruiniert, «Gangsterliebchen» wurde sie genannt.

Dompteur, Impresario, Wegbereiter

Es war Raymond Asso, ein talentierter Musiker und Textschreiber, der als Einziger «la môme» auffing. Sie kannte ihn nicht, er verehrte sie, besuchte regelmässig das «Gerny’s». Er brachte sie aus Paris weg, schrieb für sie Lieder, brachte ihr bei, sich auf der Bühne zu bewegen, zähmte sie. Zusammen einigten sie sich auf einen neuen Namen: Edith Piaf. Marguerite Monnot wurde als Komponistin engagiert. Sie blieb Edith bis zu ihrem Lebensende treu, war ihr eine gute Freundin. Wie Asso ein Freund blieb, auch wenn er nie darüber hinwegkam, dass La Piaf seine Liebe zu ihr niemals erwiderte. Zurück in Paris war der Erfolg nicht mehr aufhaltbar. La Piaf füllte bald die grössten Häuser der Stadt, wurde auf Tourneen durch Europa geschickt und monatelang für Engagements in den Konzerthallen dieser Welt verpflichtet. Sie wurde zur bestbezahlten europäischen Sängerin ihrer Zeit und entpuppte sich später auch als herausragende Schauspielerin. Marguerite und Edith waren ein starkes Duo. Sie schrieben viele Lieder zusammen. Piaf lieferte die Ideen, Monnot setzte diese musikalisch um. Sie stellten das Repertoire gemeinsam zusammen. Es heisst, dass Piaf nur ein Lied in ihr Programm aufnahm, das Monnot absolut nicht wollte. Für Monnot war es «einfach zu einfach, zu wenig aussagekräftig für eine Piaf». Sie sprach über «La vie en rose». Dieser von Piaf geschriebene Song ging um die Welt und gilt noch heute als das meistübersetzte Lied überhaupt. Bis heute haben fast alle grossen Sänger und Sängerinnen eine eigene Version dieses Liedes eingesungen.

La Piaf legte sich neben Monnot im Lauf der Zeit einen grossen Tross zu. Eine Köchin, eine Haushälterin, eine Sekretärin (Danielle Bonel), einen Manager (Louis Barrier), einen Fahrer, später eine Krankenschwester und den Chiropraktiker und Arzt Lucien Vaimber, dem sie das Lied «Mon vieux Lucien» widmete. Er vollbrachte Wunder, hauchte seiner stets kränkelnden Patientin immer wieder neues Leben ein. Sie überlebte zwei schwere Autounfälle (1951 mit Aznavour als Fahrer, 1958 mit Moustaki am Steuer). Ihr Gesicht wurde dabei entstellt. Sie litt zudem seit frühen Jahren an starker, chronischer Arthritis, musste sich über eine lange Zeit immer wieder Morphium spritzen, um sich überhaupt bewegen zu können. Im September 1959 brach sie während ihrer Konzerttournee durch Amerika auf der Bühne vom Waldhof Astoria in New York zusammen. Die Ärzte entdeckten den Leberkrebs – an dem sie schlussendlich auch starb. Die Tournee musste abgebrochen werden. Die Piaf zog sich nach Paris zurück und liess sich monatelang nicht mehr in der Öffentlichkeit blicken.

Sozial und religiös

Edith Piaf sorgte immer für alle Menschen um sich herum. Nicht nur um ihre Crew. Nein, auch um selbst ernannte Freunde, von denen sie sich ausnützen liess. Noch schlimmer: Männer und Frauen, die sich als ihre Halbgeschwister ausgaben, was im Angesicht des Lebenswandels ihres Vaters nicht unmöglich gewesen wäre. Besonders derb war dabei Simone Berteaut. Sie liess sich fast ihr ganzes Leben durchfüttern, steckte Intimitäten Edith Piafs, die meist nicht einmal halbwegs der Wahrheit entsprachen, den Medien, trat in TV-Shows auf und schrieb sogar ein Buch über «Meine Schwester». Das wurde dummerweise zum Bestseller und so verbreiteten sich viele Lügen, Gerüchte und Mythen weltweit. La Piaf war dies zeitlebens egal. Es kümmerte sie nie, was in der Presse stand, sie korrigierte auch niemals etwas. Sie wusste auch, dass sie in jeder Hinsicht benutzt und ausgenommen wurde. Sie liess auch das so stehen und meinte nur: «Nicht alle hatten das gleiche Glück im Leben wie ich. Ich kann darüber hinwegsehen.»

So war sie. Materielle Dinge waren für sie so unwichtig wie teure Autos und schön hergerichtete Wohnungen. Ein eigenes Haus besass sie nie. Danielle Bonel gab sie regelmässig Geld, um nach Belleville zu gehen und es dort den Obdachlosen zu verteilen. Sie war äusserst sozial und zudem sehr religiös. Sie betete vor jedem Schlafengehen, bedankte sich bei Gott und Thérèse de Lisieux – die ihr die wichtigste Heilige war – für ihr Dasein und ihr ganzer Stab musste vor Konzerten immer in die nächste Kirche gehen und mit ihr zusammen Kerzen für die Verstorbenen anzünden.

Ihre Nächstenliebe brachte sie auch manchmal in Schwierigkeiten. So musste sie mehrmals beim französischen Säuberungsausschuss, vor der Regierung vorstellig werden. Viele dort sahen in ihr eine Heldin, andere eine Kollaborateurin der Widerstandskämpfer. Sie machte während des Zweiten Weltkriegs Tourneen durch französische Kriegsgefangenenlager in Deutschland und schoss dort Fotos mit den Insassen. Die Fotos wurden bearbeitet und für Pässe gebraucht, die den Häftlingen später zugesteckt wurden. Damit sollte ihnen die Flucht erleichtert werden. Man spricht von unzähligen solcher Papiere, die in Umlauf gebracht worden sind. La Piaf wurde dafür weder geehrt noch zur Verantwortung gezogen. Dafür wurde landesweit ein jahrelanges Berichtsverbot über ihre Deutschlandreisen ausgesprochen.

Wiederauferstehung und Abgesang

Grosses vollbrachte sie auch 1960. Noch immer verarbeitet sie ihre Krebsdiagnose, glaubte, nie mehr singen zu können, fühle sich äusserst krank und schwach. Es durften nur noch ihr Tross und die besten Freunde bei ihr am Boulevard Lannes ein und aus gehen. Ihr enger Freund, Bruno Coquatrix, gehörte dazu. Er kam mit einer grossen Bitte. Sein weltbekanntes Theater «Olympia» stand vor dem Aus. Der Konkurs war unausweichlich. Er wusste, nur ein Comeback der Piaf konnte das Haus noch retten. Doch sie fühlte sich absolut nicht in der Lage dazu. Untröstlich erteilte sie ihm eine Absage.

Gegen Ende 1960 versuchte mehrmals ein junger Liedtexter, Charles Dumont, in ihre Wohnung zu gelangen. Er wurde immer abgewiesen, Edith Piaf wollte keine fremden Menschen empfangen. Irgendwann hatte Bonel Erbarmen, liess ihn rein und sprach den ganzen Nachmittag auf Edith ein, ihr Bett doch zu verlassen, um diesen Dumont wenigstens anzuhören. Widerwillig und im Morgenrock tat sie es. Er sang ihr das selbstgeschriebene «Je ne regrette rien» vor. La Piaf wurde hellwach. «Genau darauf habe ich gewartet. Das ist mein Leben, meine Geschichte, meine Musik!» Die ganze Nacht wurde umgeschrieben, geprobt, Noten und Texte wieder ausgetauscht. In den frühen Morgenstunden rief sie Coquatrix an. «Ich komme Ende Jahr für drei Auftritte ins Olympia. Ich habe ein neues Lied, stelle ein Repertoire zusammen. Paris stand am 29. Dezember kopf. Alle kamen sie, waren begeistert und überglücklich, ihren Spatz zurückzuhaben. Die todkranke Künstlerin verlängerte ihr Engagement auf Monate hinaus. Das Olympia, stehts ausverkauft und dies oft zweimal pro Tag, war gerettet. Das ehrenwerte Haus ist noch heute ein Wahrzeichen von Paris und bleibt eng mit den Namen Bruno Coquatrix und Edith Piaf verbunden.

La Piaf erhielt nochmals eine zweite Luft. Sie begann wieder Lieder zu schreiben. Diesmal und ausschliesslich mit Charles Dumont. Sie ging weiter auf Tournee, wenn auch immer wieder unterbrochen durch Zusammenbrüche und Spitalaufenthalte. Doktor Vaimber konnte sie nicht aufhalten.

Im Frühjahr 1962 halfen auch alle Medikamente und Spritzen nichts mehr. Ihr Körper machte nicht mehr mit, schaffte es nicht mehr auf die Bühne. Im Herbst heiratete sie den 20 Jahre jüngeren Griechen Theophánis Lamboukas, ihren Coiffeur, den sie zärtlich «Sarapo» (Griechisch: Ich liebe dich) nannte. Die Krankheit liess sich auch dadurch nicht aufhalten. Im Gegenteil – 1963 zog sie sich mit ihrem nun nur noch kleinen Tross in ein abgeschiedenes Haus mit grossem Park nach Plascassier zurück. Enge Freunde gingen noch immer ein und aus. Ihre vertrautesten, treuesten Musiker Robert Chauvigny, ihr Arrangeur und Orchesterleiter, Marc Bonel, ihr Akkordeonist und Ehemann ihrer Sekretärin. Ihr Louis Barrier, Georges Moustaki, Charles Aznavour, Marlene Dietrich mit ihrer heimlichen Liebe Jean Gabin, Raymond Asso, Johnny Hallyday mit Sylvie Vartan, Yves Montand mit seiner Frau Simone Signoret, Jean Cocteau. Und auch ihre wirklichen Halbgeschwister Herbert und Denise Gassion, ihr Mann Théo Sarapo, der sich rührend um sie kümmerte.

Am 10. Oktober verliess sie ihr Zimmer nicht mehr. Gegen 15 Uhr, setzte sie sich nochmals kurz in ihrem Bett auf, bevor sie für immer und im 48. Lebensjahr zusammensackte. In der Nacht wurde die Piaf an den Boulevard Lannes gebracht. Ihr Mann Théo und ihr ewiger Manager Louis Barrier waren dabei. Doktor Bernary de Laval, ein weiterer Vertrauensarzt, stellte am 11. Oktober 1963 um 7 Uhr, den Totenschein aus. Am Mittag sickerte die Nachricht in der Pariser Öffentlichkeit durch. Der berühmte französische Maler, Schriftsteller und Filmregisseur Jean Cocteau raffte sich ein letztes Mal auf, sprach Abschiedsworte für seine geliebte Edith ins Radio, bevor auch er für immer einschlief. Sie gelten daher in Paris noch heute als das Brautpaar des Todes.

Vor dem Haus von Edith Piaf versammelten sich unzählige Menschen. So beschloss Théo, dass die Trauernden am 12. und 13. Oktober in der Wohnung am Sarg von seiner Frau Abschied nehmen durften. Es gab herzzerreissende Szenen, aber auch diverse Souvenirs wurden aus der Wohnung mitgenommen, Sicherheitspersonal musste aufgeboten werden, Strassen wurden gesperrt.

Am 14. Oktober ruhten die Geschäfte, die Schulen schlossen, der Verkehr in der Stadt brach vollends zusammen. Menschen versammelten sich um das blumengeschmückte Gefährt mit ihrem Sarg am Boulevard Lannes. Sie begleiteten den Trauerzug über die Champs-Élysées, bewusst am «Gerny’s», am Pigalle und durch das Quartier Belleville vorbei zum Friedhof Père Lachaise. Über 100000 Menschen sollen es am Schluss sein. Beim Friedhof warteten weitere 40000 Trauernde. Darunter viel Prominenz, allen voran Marlene Dietrich, ganz in Schwarz mit nur einer einzigen Rose in der Hand. Eine am Grab schlichte Feier. Der religiösen Künstlerin, wurde vom Vatikan eine Totenmesse untersagt. In der Stellungnahme hiess es: «Die Dahingeschiedene führe ein öffentliches, zur Schau gestelltes Leben in Sünde.» Gemeint waren insbesondere ihre zwei kirchlichen Hochzeiten.

Sicherlich, eine einfache Frau war La Piaf nicht. Gekocht musste nach ihren Wünschen werden, welches Restaurant angesagt war, bestimmte sie. Theater- und Kinobesuche hat ebenfalls sie ausgewählt. Sie trat nie ohne ihr geweihtes Kreuz (ein Geschenk von Marlene Dietrich) um den Hals auf. Verlegte sie es hin und wieder vor der Show, verweigerte sie ihren Auftritt so lange, bis es ihre Entourage gefunden hatte. Ein Leben lang machte sie die Nacht zum Tag, ging immer erst in den frühen Morgenstunden ins Bett, das sie vor Mittag nicht verliess. Sie erwartete von ihrem Tross, dass dieser bei ihrem Erwachen anwesend war, und selbstverständlich auch, dass alle bis am Schluss blieben. Der bekannte französische Radrennfahrer und ihr zwischenzeitlicher Lebenspartner, Louis Gérardin – er trat nach dem Tod ihrer grossen Liebe Marcel Cerdan (gest. 1949) in ihr Leben und wurde von ihrem späteren, ersten Ehemann Jacques Pills (1952–1956) abgelöst; meinte einst: «Zwei Tage und zwei Nächte mit Edith sind anstrengender als die schwierigste Tour-de-France-Etappe.»

Und sie bereute nichts

Sie besass aber auch ein grosses Herz. Ein Herz, mit viel Liebe und Wärme gefüllt. Ein Herz auch, das so manchen Schicksalsschlag verkraften musste. Das Desinteresse ihrer Mutter – jedenfalls, bis Edith viel Geld verdiente; der schwierige Umgang mit ihrem alkoholkranken Vater, das spezielle Aufwachsen im Bordell, die Jugendjahre allein im Milieu von Paris. Der Mord an ihrem Ziehvater Leplée, der frühe Tod ihrer Tochter, der schmerzliche Verlust ihrer grossen Liebe Marcel Cerdan. Der französische Boxweltmeister und Edith Piaf verliebten sich 1947 in Amerika ineinander. Die Beziehung wurde schnell publik. Cerdan war verheiratet, hatte drei Kinder. Seine Frau akzeptierte das Doppelleben ihres Mannes, eine Scheidung stand jedoch für sie ausser Frage. Daheim war er bei seiner Familie in Casablanca, zu den Boxkämpfen ausserhalb Frankreichs begleitete ihn Edith Piaf. Sie und Marinette Cerdan kannten sich. Piaf nahm sich nach dem Tod von Cerdan – er stürzte im Oktober 1949 auf dem Weg zu seiner Liebe nach Amerika über den Azoren ab – der Witwe an, kümmerte sich um die Kinder, war besorgt um ihre Ausbildung. Für Marcel schrieb sie das Lied «Hymne à l’amour».

Die Ehe mit dem Chansonier Jacques Pills, mit den Wünschen nach einem Familienleben mit Kindern verbunden. Es zerbrach nicht zuletzt an ihrer starken Persönlichkeit.

Diese Frau hat das Leben geliebt, genossen, gelebt. Bei der Arbeit war sie akribisch, alles abverlangend. Eine Perfektionistin. «Wenn ich nicht mehr auf die Bühne stehen kann, will ich sterben!» Sah sie musikalische Talente bei jungen Künstlern, nahm sie sich diese unter ihre Fittiche, sorgte sich um sie, arbeitete mit ihnen, kümmerte sich um Engagements. Dankbar dafür waren ihr lebenslang die Compagnons de la Chanson, Charles Aznavour, Yves Montand, Eddie Constantine oder Georges Moustaki. Sie darf sich auf die Fahne schreiben, dass sie alle diese Künstler stark geprägt und inspiriert hat.

Nie beklagte sie sich. Ihre Krankheiten waren für sie kein Thema. Im Kreise ihrer Freunde sah man sie stets gutgelaunt und voller Lebensfreude. Diverse private Filme zeigen eine lachende, aufgestellte Frau, die für jeden Spass zu haben war.

Sie verabschiedete sich vom Leben, so wie sie gekommen ist. Ohne einen Franc in der Tasche, geschweige auf der Seite. Sie hatte alles ausgegeben, verteilt, verschenkt. Ihr Ehemann Theophánis Lamboukas übernahm einen Schuldenberg. Als dieser 1970 endlich halbwegs abgeschafft war, verstarb er im August bei einem Autounfall. Die Tantiemen von Edith Piaf, die noch jedes Jahr in grossen Mengen fliessen, gehen zu der Familie Lamboukas nach Griechenland. Dieser Familie gehören alle Rechte an den Werken von Edith Piaf. Sie werden nun wieder intensiv abgerufen. Paris feiert den Geburtstag der Piaf bereits den ganzen Monat, in vielen Teilen des Landes stehen diverse Aktivitäten an. Im Januar geht es weiter. Unter anderem wird Mireille Mathieu ein Gastspiel im Olympia mit den Liedern der grössten Chansonsängerin aller Zeiten geben. Lieder, die noch immer um die Welt gehen. Edith Piaf sang am Schluss ihres Daseins mit voller Überzeugung «Non, je ne regrette rien». Unbeschreiblich, wenn man so gehen kann!

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