Respekt, Offenheit und scharfer Verstand

Erich Gysling lebt seit drei Jahren in Affoltern. Der ehemalige Chefredaktor von SF DRS hat das Fernsehen vor 16 Jahren verlassen. Als Journalist mit Leib und Seele ist er seither nicht weniger beschäftigt als zuvor, denn als Kommentator politischer Ereignisse zählt er nach wie vor zur ersten Garde.

Naturverbunden: Erich Gysling kann die Zusammenhänge des Ökosystems eines Weihers ebenso präzis schildern, wie er das politische System eines Staates vermittelt. (Bilder Bernhard Schneider)

Naturverbunden: Erich Gysling kann die Zusammenhänge des Ökosystems eines Weihers ebenso präzis schildern, wie er das politische System eines Staates vermittelt. (Bilder Bernhard Schneider)

Spiel mit der Katze: Die beiden Kater freuen sich, wenn sich Erich Gysling zuhause aufhält, ohne seinen Freiraum für Reisen einzuschränken.

Spiel mit der Katze: Die beiden Kater freuen sich, wenn sich Erich Gysling zuhause aufhält, ohne seinen Freiraum für Reisen einzuschränken.

Erich Gysling bückt sich, tippt fein auf das Haus einer Weinbergschnecke, hebt sie vorsichtig auf und legt sie ins Gras, «sonst würde sie irgendjemand aus Unachtsamkeit zertreten.» Der scharfe Beobachter Erich Gysling, dem auch kleine Details nicht entgehen, der Risiken und Chancen rasch einschätzt, reagiert auch, wenn es «nur» um das Leben einer Weinbergschnecke geht. Drei Charakterzüge, die mir bei Erich Gyslings Kommentaren ebenso auffallen wie im persönlichen Gespräch, kommen in dieser kleinen Szene zur Geltung: Präzise Beobachtungsgabe, scharfe Analyse und Respekt – gegenüber Menschen, gegenüber Tieren, gegenüber dem Leben überhaupt.

Gewinnende Offenheit

 

Dreissig Jahre lang haben Erich und Andrea Gysling in Zürich gelebt. Als die Ehefrau ihre Praxis als Psychoanalytikerin einstellte, begannen sie den Umzug in ein ländlicheres Gebiet mit guter Infrastruktur zu planen und fanden vor drei Jahren ihr heutiges Heim in Affoltern, das alle Anforderungen an Wohnlage, -qualität und Verkehrsanbindung erfüllte. Freundschaften pflegen Gyslings über den ganzen Erdball. Den Bezug zur Wohnumgebung schafft Erich Gysling vor allem auf Spaziergängen am Sonnenberg in Affoltern, im Jonental, an der Reuss. Wir haben uns daher entschieden, unser Gespräch für diesen Artikel anlässlich eines Spaziergangs zu führen.

Beim ersten Bauernhof, an dem wir vorbeigehen, will mir Erich Gysling das Pferd, das ihn meist begrüsst, wenn er diesen Weg nimmt, vorstellen. Es reagiert diesmal nicht auf seinen Ruf, bleibt im Stall stehen und wendet uns den Rücken zu. Erich Gysling respektiert das. Er dreht sich um und begrüsst den Bauern, der mit einem Spaziergänger im Gespräch ist. Dessen Hund lässt sich von ihm wie von einem alten Bekannten kraulen. Gyslings gewinnende Offenheit, verbunden mit echtem Interesse für das Leben anderer, gibt seinem journalistischen Schaffen die realitätsbezogene Grundlage.

Kein Infotainment

 

Weshalb hat Erich Gysling den Job als Chefredaktor aufgegeben? Einerseits hat er in allen Führungspositionen, im Gegensatz zu vielen anderen, immer auch journalistisch gearbeitet. Dank seiner Kommentare war er für Mitarbeitende und Publikum immer ein greifbarer Chefredaktor, der sich nicht scheut, Stellung zu beziehen. «Ein Chefredaktor muss eine Stimme sein, er muss Themen kommentieren, in denen er sich vertieft auskennt», hält Gysling fest. Was ihn vor allem bewogen hat, sich aus der Leitung zurückzuziehen, war die Tendenz zum Infotainment, die seit den 1990er-Jahren nicht nur beim Schweizer Fernsehen zunahm – diese Linie, die Information und Unterhaltung vermischt, statt beiden Bereichen ihren passenden Platz zu geben, wollte er nicht vertreten. Die neu geschaffene Stelle als Chefkommentator befriedigte ihn nicht, weil kaum passende Gefässe dafür zur Verfügung gestellt wurden. Auf die Frage, was er mit dem Rest seines Lebens anfangen wolle, gelangte er zur Antwort: Er kündigte seine Stelle beim Fernsehen und gründete ein Reiseunternehmen, um für ein kleines, interessiertes Publikum politisch-kulturelle Reisen mit Hintergrundinformationen anzubieten.

Der Weg zum Fernsehen war für Erich Gysling keineswegs vorgezeichnet. Während seines Studiums der Kulturgeschichte in Wien schrieb er Buchbesprechungen im Tages-Anzeiger. Nach Abschluss des Studiums erhielt er eine Volontärstelle als Kulturredaktor in Düsseldorf. Als die damals vierköpfige Tagesschau-Redaktion 1960 eine Stelle ausschrieb, bewarb er sich erfolgreich und gelangte so zum politischen Journalismus.

Auch der Weg zum Nahostspezialisten ergab sich auf den ersten Blick zufällig: Das Fernsehen wollte Ende der 60er-Jahre nach dem Sechstagekrieg einen Berichterstatter nach Israel entsenden, wählte dazu Erich Gysling aus: «Damals war es so, dass man nach der ersten Reise als Journalist in ein Land als halber Experte galt, nach der zweiten Reise als Zweidrittel-Experte, nach der dritten Reise als Spezialist. Mir ging das zu schnell, ich wollte nicht mehr als Analphabet im Nahen Osten herumreisen, lernte deshalb Arabisch und belegte Lehrgänge, um mich mit der arabischen Kultur vertrauter zu machen.»

Als Handicap für die Fernsehberichterstattung erwies sich die Infrastruktur, die dieses Medium erfordert – eine Infrastruktur, die vielerorts nur Tophotels bieten. Als Journalist, der mit der einheimischen Bevölkerung in Kontakt kommen will, sind diese internationalen Hotels aber von beschränktem Interesse. Wenn immer möglich, steigt Erich Gysling in für die Region typische kleine Hotels ab.

Hohe Qualität im Kleinen

 

Kein Problem ist die Wahl des Hotels in seiner heutigen Tätigkeit. 1995 gründete Erich Gysling zusammen mit einem Partner Background Tours, um politisch-kulturelle Reisen anzubieten, die jeweils von einem Experten oder einer Expertin begleitet werden, die täglich ein Referat zu jeweils einem Thema hält. Rund 100 Tage ist er seither für Background Tours unterwegs, weitere gut 100 Tage investiert er in die Erarbeitung von Sachbüchern. Hinzu kommen weitere Referate und Kommentare in verschiedenen Medien.

«Unsere Reisen sind natürlich nicht nur Volkshochschule. Ich orientiere beispielsweise in vierzig Minuten vor dem Nachtessen über die Teilung Rhodesiens und Mugabes Weg an die Macht, nachdem wir tagsüber an den Victoria Falls wie andere Touristen die Natur bestaunt haben.» Diese Kombination mit Wissensvermittlung lässt das, was alle andern auch betrachten, mit anderen Augen sehen.

Welche Reisedestination ist Erich Gysling am liebsten? «Das kann ich nicht sagen. Ich gehe sehr gerne in den Iran, ging gerne nach Syrien, was zurzeit leider nicht möglich ist. Ich reise auch sehr gern nach Afrika. Während der Nahe Osten und derzentralasiatische Raum eher den Intellekt fordern, geniesse ich in Afrika auch die Naturschönheiten, die neben den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekten unbedingt genügend Raum erhalten müssen.» Die meisten Länder, die Erich Gysling mit Reisegruppen bereist, entsprechen nicht dem demokratischen und rechtsstaatlichen Standard der Schweiz. Wie offen kann Gysling in seinen Referaten sprechen? Wird er aus politischen Gründen in seiner Arbeit behindert? «Nein, ich fühle mich nicht behindert. Ich fühle mich auch nicht gefährdet, nehme aber Rücksicht auf die Sicherheit der lokalen Reiseleiter vor Ort.» Heikle Themen streife er daher lieber auf Busfahrten als in Hotelhallen, in welchen nie klar sei, wer alles zuhöre.

Der Journalist Erich Gysling ist zum Reiseleiter geworden. Seine Fähigkeiten zu beobachten, zu analysieren, sein offener und respektvoller Umgang mit Menschen, sein Gespür, wie man sich in anderen Kulturen bewegt, kommen ihm in dieser Rolle nicht weniger zugute. Nur der Kreis, der davon profitiert, ist kleiner, dafür wohl aufmerksamer geworden.

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