Sortieren, sortieren – und zählen lassen
Vom Umgang mit Jas und Neins – Beobachtungen am Wahlsonntag in Mettmenstetten

Srrrrt. Tock-tock. Fdrrrr. Es sind an diesem Sonntagmorgen im Gemeindehaus in Mettmenstetten die häufigsten Geräusche, blendet man die menschlichen Stimmen aus. Es ist Abstimmungssonntag. Ein schwer befrachteter Abstimmungssonntag. Zwei eidgenössische Vorlagen gilt es zu bewältigen, vier kantonale, eine überregionale und eine den Bezirk betreffend. Weil bei den kantonalen Vorlagen zum Teil noch über Gegenvorschläge und Stichfragen abgestimmt wird, sind es zwölf verschiedene Wahlzettel. Macht bei 3773 Stimmberechtigten in Mettmenstetten und einer Stimmbeteiligung von 46 bis 50 Prozent (je nach Vorlage) rund 1800 Abstimmungscouverts und somit 21600 Stimmzettel. Eine Papierflut in Grau (eidgenössisch), Blau (Kanton), Gelb (reformierte Kirche Knonauer Amt) und Grün (Sicherheitszweckverband Albis).
Wahlbüroleiterin Medina Krizevac hat deshalb mehr Helferinnen und Helfer aufgeboten als üblich. Zusammen mit Gemeindepräsidentin Vreni Spinner und Angestellten aus der Verwaltung werden an diesem Sonntag 13 Leute arbeiten. Still und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt wie Tausende andere auch im Land an diesem 30. November. Ohne sie und ohne das Vertrauen in sie würde die Demokratie nicht funktionieren. Die Meinungs- und Redefreiheit, die Wahl- und Abstimmungsmöglichkeiten, das alles könnte noch so liberal gehandhabt werden, es wäre sinnlos, wenn man nicht die Gewissheit hätte, dass die Stimmen am Ende zuverlässig ausgezählt und publiziert würden.
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Von der Bedeutung der Aufgabe ist im Mettmenstetter Gemeindehaus glücklicherweise wenig zu spüren. Der Ton ist locker, freundlich, viele sind per Du miteinander. Während die aufgebotenen Gemeindeangestellten kurz nach 8 Uhr schon am Werk sind und Vorarbeit für das Wahlbüro leisten, stossen eine knappe Stunde später die Wahlbüromitglieder dazu, junge Leute, vorwiegend Frauen, die sich bei den letzten Gesamterneuerungswahlen für dieses Amt gemeldet haben, vom Gemeinderat offiziell gewählt wurden und seither immer wieder mal für ein paar Stunden an einem Abstimmungssonntag aufgeboten werden.
Srrrt, tock-tock wird es ab diesem Moment aus dem grossen Sitzungszimmer bis zur Kaffeepause zwei Stunden später tönen. Auf zwei grossen Tischen werden die zuvor vom Stimmrechtsausweis getrennten Couverts mit den Stimmzetteln ausgebreitet. In einem ersten Schritt müssen die einzelnen Abstimmungsvorlagen voneinander getrennt werden. Ob jemand Ja oder Nein gestimmt hat, spielt noch keine Rolle, auch nicht, ob eine Stimme ungültig ist oder leer eingelegt wurde. Es ist eine monotone Aufgabe, die dennoch volle Konzentration verlangt. Nichts darf durcheinandergebracht werden. Vreni Spinner, die als Präsidentin des Wahlbüros von Amtes wegen vor Ort ist und von der ersten Minute an mit sortiert, schüttelt über die grosse Zahl der Abstimmungsthemen und die Kompliziertheit einiger Vorlagen den Kopf.
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Für ein wenig Abwechslung sorgen draussen im Gang vor dem Schalter die Stimmberechtigten, die an diesem Sonntag zwischen 9 und 10 Uhr ihr Couvert persönlich abgeben. Immerhin 54 Personen werden es sein, die die letzte Möglichkeit im Rahmen dieser Abstimmung nutzen und ihre Entscheide in die beiden im Inneren versiegelten Urnen einwerfen. Zwischendurch kommt es dabei sogar mal zu einem kleinen Stau. Rushhour im Abstimmungslokal.
Wieso sie ihre Stimme persönlich im Gemeindehaus abgebe und es nicht bequem per Brief tut? Weil hier eine freundliche Stimmung herrsche, erklärt eine Abstimmende auf Anfrage. Früher, als sie noch in einer anderen Gemeinde wohnte, sei sie von den Stimmenzählern jeweils misstrauisch beäugt worden, am liebsten hätten diese wohl gewusst, was sie auf ihre Stimm- und Wahlzettel geschrieben habe.
Das ist in Mettmenstetten nicht der Fall. Die beiden für die Wahlurnen aufgebotenen Stimmenzähler prüfen lediglich genau, ob die nötige Unterschrift vorhanden ist. Werfen dann die Stimmenden ihre Wahlzettel in die Urnen, schauen sie jeweils so diskret weg, als würde jemand den PIN-Code seiner Kreditkarte eintippen. Zurück zur Frage: Wieso nicht bequem brieflich abstimmen? Weil es sonst zeitlich nicht mehr gereicht hätte, bekommt man mehrmals, begleitet von einem entschuldigenden Lächeln, als Antwort. Andere wiederum nehmen es zum Anlass, den Sonntagmorgen nicht zu lang im Bett zu verbringen. Abstimmen als Antifaulenz-Programm.
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Ebenso genau wie mit dem Stimmen nimmt es Medina Krizevac mit dem Öffnen und Schliessen des Gemeindehauses für die Urnenabstimmung. Exakt um 9 Uhr wird aufgeschlossen, exakt um 10 Uhr wieder abgeschlossen, schummeln unmöglich. Und um allfällige Diskussionen über falsch oder richtig gestellte Uhren ausschliessen, gilt in Mettmenstetten als Zeitmesser die Glocke der benachbarten reformierten Kirche. Der Gong bestimmt den Gang der Urnenabstimmung.
Drinnen im Sitzungsraum des Gemeindehauses werden mittlerweile die zwölf Vorlagen auf dem Fenstersims zu zwölf kleinen Türmchen aufgebaut. Vorher werden die Abstimmungszettel jeweils, tock-tock, auf dem Tisch auf den Kanten bündig geklopft. Dank der kleinen Kerben auf den Stimmzetteln kann nun mit einem Blick geprüft werden, ob sich etwa im Bündel zur Vorlage 3 wirklich nur Zettel zu dieser und keiner anderen befinden. Und damit wirklich kein Fehler passiert, wird zusätzlich das Vier-Augen-Prinzip angewendet: Bevor eine Zettelbeige im Zwischenlager auf dem Fenstersims deponiert wird, muss noch eine zweite Person einen Blick drauf werfen.
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Einziger Unterbruch an diesem Sonntag ist eine gemeinsame Pause in einem kleinen Nebenraum. Es werden Gipfeli und Kaffee offeriert. Letzteres allerdings nur den Mitgliedern des Wahlbüros. Die Verwaltungsangestellten und Mitglieder des Gemeinderats müssen ihren Kaffee auf einer Strichliliste notieren und später, wie immer, selber berappen.
Wieso bewirbt man sich eigentlich als Stimmenzähler? Das Gratisznüni allein kann es ja kaum sein. Die Motive sind unterschiedlich, lernt man: Interesse an der Politik, Abwechslung, Verbundenheit mit der Gemeinde und natürlich auch die Freude über den kleinen Zustupf. Pro Abstimmungssonntag und damit für ungefähr einen halben Tag Arbeit zahlt die Gemeinde an die Stimmenzählerinnen und Stimmenzähler zwischen 150 und 200 Franken. Im Alltag, so zeigt sich, verdienen die Teilzeitstimmenzählenden ihr Geld unter anderem in der Krebsforschung, in der Arbeit mit autistischen Kindern oder sonst in einer Verwaltung. Manche sind schon zu Studentenzeiten zu der Nebentätigkeit gekommen und dabei geblieben. Das Amt ist durchaus populär. Mettmenstetten verfügt über einen Pool von über 20 Personen, welche im Schnitt zweimal pro Jahr aufgeboten werden.
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Mittlerweile sind aus den zwölf Türmchen, Papierhöhe pro Stapel: 18 cm (!), 36 kleinere Türmchen geworden: Es wurde händisch unterteilt in Ja- und Nein-Stimmzettel sowie in ungültige bzw. leere Stimmzettel. Auch bei diesem Arbeitsschritt gilt das Vier-Augen-Prinzip. Bereits nach wenigen Minuten lassen sich aufgrund der Höhe der Beigen Abstimmungstendenzen erkennen. Wäre das Wahlbüro an diesem Sonntag zum nationalen kantonalen «Abstimmungs-Seismografen» ernannt worden, hätten die mutmasslichen Abstimmungsergebnisse schon lange vor Mittag und Stunden vor dem offiziellen Endergebnis gemeldet werden können. Am Ende wird Mettmenstetten bei sämtlichen Vorlagen im Gleichklang mit den jeweiligen Ja- und Nein-Mehrheiten abgestimmt haben. Nur fallen die prozentualen Ergebnisse jeweils ein klein wenig akzentuierter aus.
Was auffällt: Nur zwei der 13 Personen an diesem Abstimmungssonntag im Gemeindehaus sind Männer. Zu gerne hätte man gewusst, was der «Gemeinderat Mettmenstetten von 1892 bis 1895» dazu gesagt hätte, deren Porträts neben einer alten Schreib- und einer alten Rechenmaschine den zurückhaltend dekorierten Raum schmücken. Zu ihrer Zeit war bekanntlich Politik noch reine Männersache – und sollte es auch noch für viele Jahrzehnte bleiben. Dass hier jetzt mehrheitlich Frauen tätig sind und auch noch die Verantwortung tragen, es hätte den Herren wohl schlicht die Sprache verschlagen.
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Jetzt ist der wichtigste Arbeitsschritt an der Reihe, das Stimmenzählen. Anders, als es der Name vermuten lässt, übernehmen dies aber nicht die Stimmenzählerinnen und Stimmenzähler, sondern zwei Maschinen, genauer Geldzählautomaten. Pro Maschine lassen jeweils eine Verwaltungsangestellte und ein Wahlbüromitglied, fdrrr, die Stimmzettel durchlaufen. Dabei werden jeweils Bündel zu 100 Stimmen gebildet, was die spätere Gesamtzählung erleichtert. Parallel erfassen Medina Krizevac und Vreni Spinner gemeinsam an einem Computer die Zahlen, welche sie kurz darauf an den Kanton weiterleiten. Ein kleines Problem bereitet diesmal die Abstimmung der reformierten Kirche Knonauer Amt über die Teilrevision der Kirchgemeindeordnung. Denn die Kirche lässt bereits Personen ab 16 und Ausländer abstimmen, was kurzfristig zu Fragen bei der Abgrenzung zu den anderen Abstimmungen führt.
Während sich die meisten Stimmenzählenden nach und nach verabschieden, folgt der letzte Arbeitsschritt: Die Stimmzettel werden «gegümelet», heisst: mit einem Gummiband gebündelt und in Schachteln gepackt, bevor sie vorübergehend ins Archiv verschwinden. Nicht ganz unwichtig dabei: Die Schachteln werden versiegelt, damit im Falle einer Nachzählung zwischenzeitliche Manipulationen ausgeschlossen werden können.
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Als Letzte werden auch an diesem Abstimmungssonntag Vreni Spinner und Medina Krizevac das Gemeindehaus verlassen. Mit ihnen bleiben bis zum Schluss zwei Mitglieder des Wahlbüros sowie das Verwaltungsteam vor Ort. Am Ende müssen zwei Mitglieder des Wahlbüros die Protokolle mit den vom Kanton freigegebenen Ergebnissen unterschreiben. Erst dann können im Gemeindehaus die Lichter gelöscht werden.
In ein paar Wochen wird sich der Kanton bei den Gemeinden und somit auch in Mettmenstetten melden und – letzter Akt – die Vernichtung der Stimmzettel erlauben. Jemand aus der Verwaltung hat dann die Aufgabe, wieder alle Schachteln auszupacken, die Bündeli von den Gümeli zu befreien und schliesslich jeden einzelnen Stimmzettel – das Stimmgeheimnis bleibt bis zuletzt gewahrt – durch einen Schredder laufen zu lassen. Bis dann wird jedes Ja und jedes Nein geschätzt zwei Dutzend Mal einzeln oder in einem Stapel von jemandem in die Hand genommen worden sein.
Demokratie ist aufwendig. Und verlangt Sorgfalt.


