Strenge Regulierung führte zu Armut und Hunger
900 Jahre Stallikon (2): Landwirtschaft, Heimarbeit und Handel

Seit der Gründung der Dörfer und Weiler im Früh- und Hochmittelalter prägte die Landwirtschaft das wirtschaftliche und soziale Leben im Reppischtal, das sich zwangsweise rund um den Ackerbau organisierte. Als Zehntherr setzte sich im 12. Jahrhundert das Kloster St. Blasien durch, das offenbar zu den Akten der Benediktinerabteien Muri und Engelberg Zugang hatte, diese kopieren, abändern, sich von ihnen inspirieren lassen konnte und als älteres Kloster gewiefter mit den konkurrierenden Päpsten und Gegenpäpsten, Königen und Gegenkönigen umging, um sich von diesen Besitzgarantien besiegeln zu lassen.
Mehr Abgaben als anderswo
Für die Stalliker Bevölkerung war es allerdings nicht so wichtig, wem sie den Zehnten abliefern musste, sondern vor allem, wie viel. Und dieser Zehnt war höher als anderswo, nämlich nicht 10, sondern 11,1 und ab der Mitte des 16. Jahrhunderts aufgrund einer Neuberechnung des Klosters, die offenbar niemand durchschaute, 11,25 Prozent.
Die Bodenbewirtschafter erhielten keine Gegenleistung für diese Abgabe, mit Ausnahme kleiner Gesten. Die wohl bedeutendste dieser Gesten war das Zehntenmahl, das St. Blasien als Zehntherr nach der Übergabe der Garben ausrichten musste. Vor allem für die konstant mangelernährten Angehörigen der Unterschicht war ein üppiges Mahl zu Beginn des Winters eine bescheidene Möglichkeit, einmal jährlich mehr als genug zu essen und im Idealfall dabei geringe Fettreserven anzulegen.
Die Mönche von St. Blasien versuchten bereits hier, noch etwas mehr herauszupressen, denn 1547 beschwerten sich die Gemeinden Stallikon, Bonstetten und Breitmatt darüber, dass das Kloster die Ausgaben für das Mahl halbiert habe. Der Zürcher Rat entschied, dass das Kloster die Tradition beibehalten müsse.
Vom Hochmittelalter bis zur Zehntablösung in den 1830er-Jahren blieben die Möglichkeiten, die Bodenbewirtschaftung effizienter zu gestalten, sehr beschränkt. Neu wurden auf der Brache Ende des 18. Jahrhunderts teilweise Leguminosen und Kartoffeln angebaut. Dies verbesserte die Erträge aber nur sehr beschränkt, während sich die Bevölkerung vervielfachte. Die 1772 erstellte landwirtschaftliche Statistik stellt daher im Wesentlichen den Besitz an Kulturland und Nutztieren dar, wie er sich seit dem Spätmittelalter kaum verändert hatte.
Pferde und Stiere befanden sich ausschliesslich im Besitz wohlhabender Bauern. Der mächtigste Mann in der Gemeinde 1772, der Untervogt Hans Jacob Nievergelt aus Gamlikon, setzte zumindest einen seiner Hengste als Reitpferd ein, denn mit vier Stieren verfügte er über so viel Zugkraft wie nur noch zwei weitere Bauern. Den meisten stand höchstens eine Kuh zu diesem Zweck zur Verfügung.
Multifunktionale Kühe
Kühe waren die wichtigsten Tiere, denn ihnen oblagen viele Funktionen: Sie lieferten Zugkraft, Dünger, Milch, Kälber und schliesslich, wenn ihre Kräfte nachliessen, Fleisch. Ihre Zahl war begrenzt durch die Futtermenge, die Wiesen und Weiden sowie die Brache zur Verfügung stellten. Das vorgeschriebene Produktionssystem ordnete die Viehzucht dem Ackerbau in jeder Beziehung unter.
Da die Produktion zunehmend hinter dem Bevölkerungswachstum her hinkte, waren andere Erwerbsmöglichkeiten gefragt. Da die Stadt Zürich nach der Reformation das Söldnertum stark einschränkte, stand vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Auswanderung im Vordergrund. Der Dreissigjährige Krieg (1618–48) hatte zwischen Rhein und Nordsee ganze Landstriche entvölkert, was Knechten und überschüssigen Söhnen aus der Zürcher Herrschaft die Möglichkeit gab, einen eigenen Hof aufzubauen, wenn sie eine passende ledige und verwaiste Erbin etwa in der Pfalz fanden.
«Working poors»
Im 18. Jahrhundert erlebte die Heimarbeit eine starke Zunahme. Stallikon (innerhalb der heutigen Gemeindegrenzen) zählte 1772 unter 149 Haushaltungen 44 Bauern, wovon 20 Nebenverdiensten nachgingen, etwa als Schulmeister oder Handwerker. Meist trugen Frau und Kinder durch Baumwollspinnen zum Familieneinkommen bei. Baumwollspinnen erforderte eine Handspindel und war daher eine leicht zugängliche Tätigkeit, die wenig Platz und Kapital benötigte. Weber hingegen brauchten mehr Raum und Kapital, konnten dafür höhere Preise erzielen. Stallikon zählte 19 Wollweber, deren Familien teilweise auch Baumwolle spannten. Zudem gab es zwei Seidenwinder, einen Mousselineweber und einen Strumpfweber. Die grösste Berufsgruppe bildeten die 40 Haushaltungen, die ihren Lebensunterhalt hauptsächlich durch das Spinnen von Baumwolle verdienten. Der Stalliker Pfarrer stellte 1799 fest, dass nur die Hälfte der Haushaltungen über genügend Nahrung und Kleidung verfüge, die anderen hätte er in Neudeutsch als «working poors» bezeichnet.
Mit der Industrialisierung und dem Zusammenbruch der Garnpreise in den ersten zwanzig Jahren des 19. Jahrhunderts verloren viele Spinnerinnen und Spinner ihre Einkommensquelle und wechselten zur Arbeit in Fabriken. Die Heimarbeit, die einst ein wichtiger Bestandteil der ländlichen Wirtschaft gewesen war, ging damit stark zurück. Für die Zehntablösung musste so viel Kapital aufgebracht werden, dass viele Nebenerwerbsbauern ihr Land zu einem tiefen Preis verkaufen mussten.
Aufbau des Welthandels
Nach dem Loskauf der Zehnten nutzten die Bauern ihre neue Freiheit in der Bodenbewirtschaftung, um bisheriges Ackerland als Wiese zu nutzen und den Viehbestand auszuweiten, denn Fleisch- und Milchwirtschaft schuf wesentlich mehr Ertrag als der Ackerbau. Dank dem Eisenbahnbau konnten nun Produkte aus der Viehwirtschaft exportiert, Getreide und Kartoffeln importiert werden, was die Ernährungslage stark verbesserte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sank die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Stallikon rasch. Dennoch blieb die Viehwirtschaft ein wichtiger Erwerbszweig. Ackerbau, wie er vor der Zehntablösung vorgeschrieben war, lässt sich an den vielen steilen Abhängen der Albiskette kaum mit modernen Bearbeitungsmethoden bewerkstelligen. Es waren nicht nur die Feudalabgaben, welche vom Hochmittelalter bis ins 19. Jahrhundert einen zunehmenden Teil der Bevölkerung hungern liessen, sondern auch die Überregulierung, die Innovationen und unternehmerischem Handeln fast jeden Spielraum abwürgte.