Text und Klang gehören zusammen
Klezmer Kapelye und Jaap Achterberg mit Tschechows Erzählung «Rothschilds Geige»
Vor rund 120 Jahren starb der russische Arzt, Schriftsteller, Novellist und Dramatiker Anton Pawlowitsch Tschechow im Alter von 44 Jahren. Ist heute noch aktuell, was er damals schrieb? Und wie! Jaap Achterberg, Schauspieler und Sprecher, wählte Tschechows Erzählung «Rothschilds Geige» und gestaltete in Zusammenarbeit mit der Klezmer Kapelye ein beeindruckendes Programm. Auf seiner Website ist zu lesen: «Die Merkmale seiner Erzählungen sind äusserste Kürze, Wahrhaftigkeit, Kühnheit und nicht zuletzt menschliche Herzlichkeit – so wie in ‹Rothschilds Geige›.»
Gleich zu Beginn brachte Achterberg auf den Punkt, was den Abend so stimmig machte: «Text und Klang sind Elemente, die zusammengehören.»
Musik und Lesung erfolgten in einer hervorragend gestalteten Choreografie. Achterberg wünschte vom Publikum, dass erst am Schluss applaudiert werden soll. Es hätte den Zauber dieses Abends gestört, wäre das Gesamtwerk von Wort und Klang durch Klatschen unterbrochen worden.
Geschichte
Sargtischler Jakow Matwejitsch lebte mit seiner Frau Marfa in einer Hütte in einem Städtchen, das schlimmer war als ein Dorf. Weil zu wenige Leute starben, ging es ihnen schlecht. Sie bewohnten ein einziges Zimmer, das gleichzeitig auch Werkstatt war.
Ein einziges Thema bewegte den Sargtischler: Verluste. Er berechnete sie mit seiner Rechentafel. An Sonn- und Feiertagen durfte er nicht arbeiten: ein Verlust von 200 Arbeitstagen. Wenn er in einer Stadt hätte leben können, hätte er viel mehr Särge zimmern können. Welch ein Verlust! Eigentlich war auch seine Frau Marfa ein Verlust, sie ass und trank, allerdings nur Wasser, Tee wäre ihm zu teuer gewesen. Und erst die Steuern. Jakow war nicht zufrieden. Nie.
Manchmal wurde er gebeten, gegen ein geringes Entgelt in einem Orchester mitzuspielen, das bei Hochzeiten, Taufen und weiteren Gelegenheiten engagiert wurde. Wenn er nicht eingeladen wurde, bedeutete dies logischerweise ein Verlust. Jakov spielte Geige, sehr gut Geige und er liebte seine Geige mehr als seine Frau. Im Orchester ärgerte er sich über den Flötisten, den Juden Rothschild, denn dieser zauberte selbst aus dem heitersten Stück ein wehmütiges. Dafür hasste Jakow den Flötisten und übertrug seinen Hass auf alle Juden in seinem Umkreis.
Seine Frau Marfa erkrankte und starb. Da erst fiel ihm auf, dass sie beide 52 Jahre zusammen in einem Raum gelebt hatten, dass er aber kein gutes Wort, kein kleines Geschenk für sie gehabt hatte. Und noch ein Verlust: Marfas Sarg kostete 2 Rubel und 40 Kopeken – und die konnte er nicht einkassieren.
Schliesslich fiel es Jakow leicht, diese Welt der Verluste zu verlassen und er vermachte Rothschild seine geliebte Geige. Dieser spielte sie so kunstvoll, so traurig, dass die Leute weinen mussten und das Stück immer wieder hören wollten.
Klezmer Musik
Diese Geschichte um den russischen Musiker und Juden Rothschild ruft geradezu nach Klezmer Musik. Denn diese nichtliturgische, jüdische Musik wurde seit dem 15. Jahrhundert zur Begleitung von Hochzeiten und anderen Festen gespielt und hat sich bis heute konstant weiterentwickelt.
Franco Mettler, Klarinette, und Laura Zangger, Violine, entlockten ihren Instrumenten Töne, die so vielfältig und emotional wie menschliche Stimmen klangen.
Michel Estermann brachte mit seiner Gitarre Rhythmus in die Stücke, die oft langsam und melancholisch beginnen und dann in wilde, schnelle Rhythmen übergehen.
Rees Coray unterlegte mit seinem Kontrabass die Musik, liess aber auch sein grosses Instrument zupfend und streichend die Stimmung prägen. Klezmer Musik ist angelehnt an den Gesang des Chasan, des Vorbeters in einer Synagoge oder jüdischen Gemeinde und an paraliturgischen Gesang. Es gibt krekhts, «Schluchzen», und dreydlekh, eine Art Triller. Triller sind auf Klarinette, Kontrabass und Geige einfach zu bewerkstelligen. Die Streicher erzielen den Effekt durch «Glissando», durch das Gleiten des Fingers von einer Tonhöhe zur nächsten. Franco Mettler brachte auch seine Klarinette zum Schluchzen – er ist ein Virtuose der Klezmer Musik. Er hat schon mehrere Stücke mit Jaap Achterberg zusammen gestaltet. Beispielsweise «Hiob – Die Geschichte eines einfachen Mannes» und «Achterberg singt Jacques Brel» kamen in der Buchhandlung Scheidegger in Zusammenarbeit mit KulturAffoltern zur Aufführung.
Gesungen hat Achterberg auch am vergangenen Samstag – eine Ballade als Zugabe. Er ist neben dem künstlerischen Schaffen als Sprecher für die SBS Schweizerische Bibliothek für blinde und sehbehinderte Menschen im Hörbuchstudio ZH tätig.
Achterberg hat in Affoltern sein Stammpublikum, der Anlass fand in der Halle der AVA Verlagsauslieferung hinter dem Buchladen statt, um die Zahl begeisterter Besucherinnen und Besucher fassen zu können.
Zu hoffen ist, dass KulturAffoltern und die Buchhandlung Scheidegger auch 2024 einen Anlass mit Jaap Achterberg organisieren werden.